Kirche ohne Jesus
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Zürich, Helvetiaplatz, Café Bank. Zwei Männer in den 30ern sitzen zwischen Stahlträgern, abgeblätterten Wänden, Palmen und edlem Holz und besprechen ein Projekt. Einer von ihnen, rote Wollmütze, Schlabberpullover, Hornbrille, lange Haare, Retro-Skateboard, stellt sich als «Hipster» vor. Er ist DJ und Yoga-Lehrer und kennt halb Zürich. Während des Gesprächs dreht er ein energierecycelndes Armband, genannt Torus, wie einen Rosenkranz durch die Hände, erzählt von Wohnzimmerclubs und wirft Wörter wie «meta», «predictable», «enablen» ins Gespräch.
Der andere sitzt vor dem Laptop, trägt Polo-Shirt, kurze Haare und formuliert ganze Sätze. Er heisst Patrick Schwarzenbach, ist Pfarrer im offenen St. Jakob am Stauffacher und will junge Gemeindemitglieder mit einem Filmscreening in seine Kirche locken. Schwarzenbach will den Yoga-Lehrer um seine Meinung bitten. Soll er sich für den Dok über den irren Psychiater entscheiden? «Da kann jeder anknüpfen, es haben doch alle einen Crazy-Onkel, der nach Südamerika ausgewandert ist», meint der Hipster. Oder doch eher der Film über den indischen Guru? «Das hätte einen spirituellen Bezug», überlegt Schwarzenbach.
Schwarzenbach braucht Ideen. Die Lage ist ernst: Teilten sich in den 1970er Jahren Katholiken und Reformierte fast die ganze Schweiz gleichmässig untereinander auf, sieht der Vergleich 2015 für die Protestanten schlecht aus. Während die Katholiken nur 9 Prozentpunkte verloren, schrumpften die Reformierten von 49 auf 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. Also um fast die Hälfte. In der Stadt Zürich sieht die Lage ganz düster aus: Laut offiziellen Zahlen der reformierten Kirche sank die Mitgliederzahl seit den 1960er Jahren auf einen Drittel der ursprünglich 270 000 Mitglieder. Bis 2030 sollen es nochmals 20 000 weniger werden. In der Hauptstadt des einst fast vollständig protestantischen Kantons Zürich sind die Reformierten mittlerweile in der Minderheit; die Katholiken bilden mit 117 000 Mitgliedern die stärkste Religionsgemeinschaft. Wie stoppt man diesen Prozess? Wie holt man die Leute zurück, wenn viele nicht einmal mehr wissen, was an Weihnachten geschah, und die, die es noch wissen, austreten, weil die Kirche sie enttäuscht oder ihnen als rückständig erscheint?
Alarmiert ist man aber nicht bloss wegen dem Mitgliederschwund. Auch seit die Zürcher Reformierten in einer soziologischen Studie von 2011 herausgefunden haben, dass sie von zehn potenziellen Milieus nur drei erreichen, fragen sich die Reformierten, was man ändern soll. Das gläubige, eher bürgerliche Stammpublikum hat man auf seiner Seite, es taucht sonntags oder zumindest an Feiertagen in der Kirche auf, ist in der Tendenz aber grauhaarig und geht gebückt. Aber was ist mit all den anderen Menschen, die genauso spirituelle Bedürfnisse haben? Die Projektgeneration, die spürt, dass da was ist jenseits des Fassbaren, die aber keine Lust hat auf Sonntagsgottesdienst? Immerhin interessieren sich laut einer Studie des Religionssoziologen Jörg Stolz von 2010 30 bis 50 Prozent der Millenial-Reformierten für eine alternative Spiritualität, und 57 Prozent aller Kirchgänger wünschen sich «eine fröhliche, lockere Atmosphäre.» Wie erreicht man diese Leute? Mit Filmscreenings? Oder indem Schwarzenbach unter der Woche ein Guerilla-Yoga oder ein DJ-Set in der Kirche veranstaltet? Wer eine andere Spiritualität sucht, wird im Programm der Citykirche jedenfalls fündig: Viermal wöchentlich Schweigemeditation, Yoga, Atem-Übungen, Derwisch-Tanz.
Nach dem Treffen mit dem «Hipster» begibt sich Schwarzenbach zurück in die Citykirche, wo um Punkt Zwölf der Ton einer buddhistischen Klangschale erklingt. Zehn Personen sitzen mit geschlossenen Augen im Kreis vor der Kirchenorgel. Die einen auf einem Schemel, die anderen im Lotussitz. Sie falten die Hände oder formen sie wie Buddha über dem Bauch zu einem Kreis. Eine Viertelstunde lang sitzen sie da und tun nichts. Sie warten auf Gott. Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern, denen das Sitzen ohne Lehne schwerfällt, sitzt Schwarzenbach immer kerzengerade. Sein Kopf schwankt im Millimeterbereich, husten muss er kein einziges Mal. Kein Wunder, meditiert der 32-Jährige Mann mit der sanften Stimme und den langsamen Handbewegungen doch schon sein halbes Leben: Seit 16 macht er regelmässig Zen-Übungen. Immer wieder zieht er sich ins Kloster zurück. Und dabei ist er strikt: Nächste Woche sei er für Fragen nicht erreichbar, sagt er bei einer Terminbesprechung. Er weile im jesuitischen Lasalle-Haus und habe sein Handy ausgeschaltet.
Gottesdienst, findet eine junge Pfarrerkollegin von Schwarzenbach, soll nicht Dienst an Gott sein: Stunden auf harten Bänken, die man wie eine Strafaufgabe absitzen muss. Es verhalte sich umgekehrt. Der Diener ist Gott, der Bediente der Mensch. Und weil sich damit der Zwang erledigt hat, ist die Form offen.
«Das Zwingli-Jahr wäre eine grosse Chance, sich ein inhaltliches Profil zu geben», sagt Religionsexperte und «Tages-Anzeiger»-Journalist Michael Meier. Es verspricht viel mediale Aufmerksamkeit. «Aber sie nutzt es zu wenig.» Fehlenden Willen kann man ihr jedenfalls nicht vorwerfen: Der Trägerverein «500 Jahre Reformation Zürich» verfügt über ein Budget von über 13 Millionen Franken. Inhaltlich konzipiert werden die Feierlichkeiten aber nicht von Theologen. Verantwortlich zeichnen Kulturmanager: Barbara Weber, ehemalige Co-Direktorin des Theater Neumarkts, und Expo02-Kopf Martin Heller. Für Nicolas Mori, Pressesprecher der reformierten Kirche Zürich, steht man angesichts des Aufwands und dieser Chance denn auch vor einer Bewährungsprobe: «Wenn wir es bei einem solchen Jubiläum nicht schaffen, Wirkung in der Öffentlichkeit zu erzielen, ist die Frage berechtigt, ob die Kirche überhaupt noch etwas zu sagen hat.»
Was sagt die Kirche denn? Und wie sagt sie es? Die Zürcher Kirche Sihlfeld beispielsweise bietet einen «Meditativ-kreativen Malworkshop» an. Damit will die Quartierkirche auf ihr Jahresthema «Chaos und Ordnung» einstimmen. Ein Saal, gelber Parkett, bemalte Fenster und ein Dutzend vorwiegend ältere Personen, die mit geschlossenen Augen und unter Anleitung einer Künstlerin ein Blatt Papier mit Neocolor bearbeiten. Die einen kritzeln minutiös, die Augen zusammenkneifend, die anderen kreisen locker aus dem Handgelenk heraus mit einem stillen Lächeln im Gesicht. Die Künstlerin will, dass sie Kontakt mit dem «anderen» aufnehmen. Sie sollen die inneren «Tornados», «Erdbeben» und «Überschwemmungen» verarbeiten. «Alle haben ein Chaos in sich, und es tut gut, es zu malen», sagt die Künstlerin. Und wer das gemalte Chaos nicht aushält, kann es in einem zweiten Bild «heilen».
Das Angebot ist erfolgreich, der Kurs ist ausgebucht. Doch der christliche Glaube ist nebensächlich. Manche sind einfach fürs Malen gekommen. Etwa die Dame mit dem Band in den Haaren, die über den Kunstbegriff nachdenkt und ihr Gemälde als Geschwür bezeichnet. Oder ihre Kollegin mit den Jackson Pollock-Spritzern. «Energien fühle ich nicht», stellt sie fest. Andere dagegen spüren durchaus innere Kräfte. Eine Teilnehmerin malt ein düsteres Bild: Schwarze Wolken bedrängen ein Gärtchen. Sie sind so dicht, dass selbst die riesige Sonne am Bildrand sie nicht durchbrechen kann. Eine weitere Frau beugt sich über das Bild ihrer Nachbarin, die Flammen aus dem Boden schiessen lässt: «Da scheint etwas aufzugehen: die Vollendung», analysiert sie. Dann wendet sie sich der Künstlerin zu und meint: «Chaos und Ordnung, Bös und Gut – das sind zwei Pole. Es braucht wohl beides.» Sozialdiakonin Christina Falke begleitet den Workshop. Das Malen versteht die Frau mit der unauffälligen Brille und dem rötlichen Haar als spirituelle Übung. Man wolle nicht neue Mitglieder rekrutieren. «Bei solchen Kursen geht es darum, die Kirche als gesamtes attraktiv zu halten.»
Das versucht die Kirche auch mit einer Massnahme, welche im Rahmen der Kirchenreform umgesetzt wird: Sie heisst «Profilgemeinde». Die Kirche individualisiert sich auf die Bedürfnisse der Leute, ähnlich dem Facebook-Feed. Profilgemeinden sollen die Leute dort abholen, wo sie sind. Für Traditionelle gibt es den Gottesdienst mit Orgelmusik. Für ein moderneres Publikum Jazzgottesdienste, wie sie in Wiedikon stattfinden. Für die Randständigen Schwarzenbachs «City-Kirche» am Stauffacher. Verwandt mit diesem Versuch ist das Konzept «Fresh Expressions of Church», das aus der anglikanischen Kirche stammt. Die Idee: Man feiert Gott mit spontanen Events statt jeden Sonntagmorgen und bildet so in einer Zeit der gesellschaftlichen Fragmentierung Milieukirchen, die unabhängig von einer grösseren Gemeinschaft und einem Gotteshaus funktionieren. Doch «Fresh Expressions» kursiert in der Schweiz hauptsächlich als Modebegriff unter Theologen. Eines der wenigen konkreten Beispiele gibt es in Rüti im Zürcher Oberland: Ein paar Heavy-Metal-Fans fühlten sich in der traditionellen Kirchgemeinde ausgeschlossen und begannen, Predigten zu veranstalten, die sie mit ihrer Musik untermalten.
Gottesdienste als Events also. Die Richterswiler verwandelten ihre Kirche in ein cineastisches Lichtkunstwerk. Die Mönchaltorfer erwanderten die Weihnachtsgeschichte im Fackelschein, begleitet von Bläserquartett, gebratenen Marshmallows und Hirt inklusive Schafherde. Die Maurmer veranstalteten den Event «Spirit & Soul»: Der Pfarrer lud zum Gottesdienst im Schulhaus bei Russenzopf und Reggae-Musik zu einem Referat zum Thema «All about Love – Liebe und ihr Zerbrechen», vorgetragen von einem Scheidungsanwalt. Mit individuellen Zuschnitten arbeiten aber nicht nur ganze Gemeinden. Zürcher Pfarrer versammeln ihre Schäfchen in Whatsapp-Gruppen. Christoph Sigrist, Pfarrer im Grossmünster, besucht gar jedes neue Mitglied seiner Kirche persönlich zuhause.
Sigrist sieht, wie sein Sonntagmorgengottesdienst gleichwohl immer weniger besucht wird: «Er ist im Markt der Religionen ein Nischenprodukt». Stattdessen bietet er andere spirituelle Veranstaltungen an: Gottesdienst unter der Woche mit Taizé-Klängen, Gottesdienste, an denen die Vesper nach benediktinischer Regel gesprochen wird. «Von anderen spirituellen Angeboten wie Yoga unterscheiden wir uns durch unsere sakralen Räume, die andere spirituelle Schwingungen evozieren als ein Yoga-Studio», sagt er. Zudem habe man mit Jesus eine tröstende Figur, welche mit ihrem Tod für die Wiedergeburt und das ewige Leben steht. «Wir sind aber nicht besser als ein anderes spirituelles Angebot. Jeder soll sich das holen, was ihm entspricht.» Dass seine Kirche mehr Mitglieder verliert als die katholische, erklärt sich Sigrist mit der Zuwanderung. «Sie hat Zulauf durch Migranten, denen die traditionelle Kirchlichkeit wichtig ist.»
Doch dies sehen nicht alle Reformierten so. Josef Hochstrasser, 70, aus dem aargauischen Oberentfelden, liess sich ursprünglich zum katholischen Priester ausbilden. Er verliebte sich aber mit 27, heiratete, wurde des Amtes enthoben und reformierter Pfarrer. Er arbeitete auch als Religionslehrer und schrieb Fussballtrainer Otmar Hitzfelds Biografie. Hochstrasser widerspricht Grossmünster-Pfarrer Sigrist vehement: «Das Problem geht tiefer. Die Protestanten schaffen es nicht, ihre Theologie mit Sinnlichkeit zu verbinden, mit einer gewissen Erotik, wie es die Katholiken mit ihren Ritualen tun. Das Wort ist das einzige Instrument ihrer Religion. Und die meisten Pfarrer sind nicht mal gute Redner.» Was er ganz und gar nicht versteht: «Der Begriff religiöses Angebot macht mich fuchsteufelswild. Jesus hat auch nicht gefragt, was die Leute wollen. Er hat gesagt: Hallo, da bin ich, und die Leute sind ihm gefolgt. Wir sind kein Profi-Dienstleister, der im religiösen Markt auf Kundenbedürfnisse reagiert. Wir müssen uns im Gegensatz zurück auf uns besinnen und uns überlegen, was Gott und Jesus im Kern ausmacht.»
Doch bei dieser Rückbesinnung auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, scheint einfacher gesagt als getan. Das liegt an der demokratischen Natur der reformierten Kirche. Die Gemeindemitglieder wählen die Kirchenpflege, die den Pfarrer einsetzt, und die Mitglieder der kantonalen Synode. Die Synode regelt die Kirchenordnung und wählt den Kirchenrat, welcher auf Kantonsebene die Landeskirche als Ganzes leitet. Die Kirchgemeinden sind finanziell selbstständig und bestimmen mit der Wahl ihres Pfarrers dessen inhaltliche Ausrichtung. Dieser darf alles predigen, solange er es mit der von der Synode festgesetzten Liturgie und dem Evangelium begründen kann. Die Kirchensynode aber ist nur äusserlich eine Einheit. Innerlich ist sie aufgesplittert in Fraktionen wie die Liberalen oder die Religiös-Sozialen, die nicht nur eine unterschiedliche Sicht auf das Evangelium, sondern auch auf politische Themen wie die Unternehmenssteuerreform haben, wie Nicolas Mori, Sprecher der reformierten Kirche Zürich erklärt.
Bei jeder Gelegenheit betonen die Reformierten diese demokratische Tradition, die sie von der katholischen Kirche so fundamental unterscheidet. Das Prinzip, mit dem Martin Luther und Huldrych Zwingli die Kirche revolutionierten, lautet: Jeder darf mit Gott kommunizieren. Der Mensch braucht nicht wie bei den Katholiken Priester, die das für ihn tun. Doch obschon Vater Zwingli sich vom Papst lossagte, hatte er eine klare Vorstellung davon, was die Zürcher tun und lassen sollten. In seinem Glaubensbekenntnis mit dem Titel «Kommentar über die wahre und falsche Religion» regelte er feinsäuberlich Sakramente und Abendmahl und steckte die Grenzen zur katholischen und lutherischen Theologie ab.
Weil die reformierte Kirche mit der Moderne Schritt hielt, wurde der Freiheitsgedanke, den die Reformation im Keim mit sich trug, allmählich Wirklichkeit. Die reformierte Kirche war die erste Religion, die sich von der Aufklärung zähmen liess. Im 19. Jahrhundert erhielten in den aufgeklärten, urbanen Gegenden Europas, auch in Zürich, die historisch-kritischen Theologen die Deutungshoheit über die reformierte Theologie. Für sie war die Bibel nichts weiter als eine historische Quelle. Sie predigten an Weihnachten, dass Jesus nicht vom heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau Maria geboren wurde und an Auffahrt, dass er nicht gegen den Himmel gefahren war.
1839 führte das zum «Züriputsch». Die konservative Landbevölkerung stürmte Zürich und zwang die Regierung, den liberalen Theologen, den sie als Professor in der theologischen Fakultät der neuen Universität eingesetzt hatten, wieder zu entlassen. Die refomierte Kirche traf in den folgenden, von diesen Konflikten geprägten Jahren eine Entscheidung, die bis heute nachwirkt: Weil sie es sich mit niemandem verscherzen wollte, bezog sie keine Position. 1868 führte sie stattdessen die Bekenntnisfreiheit ein. Ab jetzt war jeder in ihrer Kirche willkommen: Pietisten genauso wie Atheisten. Mit der seither fortschreitenden Liberalisierung ist die reformierte Kirche also paradoxerweise an ihrem Ziel angelangt: Alle sind gleich, alle sind frei. Doch was soll man tun, wenn alles geht?
Jungpfarrer Francesco Cattani hat sich für das Gespräch den «Sternen» ausgesucht, der zehn Minuten von seiner Kirche entfernt liegt. Eine Jägerstube mit dunklen Tischen, Kuhglocken, geschmiedeten Pendelleuchten mit fein verzierten Milchglas-Lampen, handgemachten Fenstern und alten Herren beim Jassen. Er nimmt einen Schluck von seiner Stange und sagt: «Es ist auffallend, dass die meisten ihre theologischen Fragen lieber bei einem Bier als in der Kirche besprechen.» Cattani, Dreitagebart, Lederjacke, ein kleines Tattoo auf dem robusten Arm, ist zwar erst seit drei Monaten Pfarrer, doch er versteckt sich nicht. «Gott ist manchmal ein Schafseckel», sagt er und meint damit, dass er ihn nicht immer versteht.» Jesus, erklärt er, habe das Anti-Establishment angesprochen. Also müsse man auch heute Ausgegrenzte integrieren. «Oder warum nicht aufs Koch-Areal gehen und die Besetzer fragen, was sie suchen?» Er grinst: «Vielleicht würde ich auch eins an den Grind bekommen, wie Leutenegger. Aber vielleicht ergeben sich spannende Gespräche.»
Cattani, der seinen Konfirmanden sagt, dass One-Night-Stands okay seien, sofern beide Partner freiwillig mitmachten, will, dass die Kirche Flagge zeigt. Und er will, dass die Mitglieder ein klares Bekenntnis zu ihrer Kirche ablegen. Er erzählt, wie ihn Freunde nach Italien einladen wollten, damit er sie dort traue. Sie sagten: «Mach einen Gottesdienst. Aber lass ja Bibel und Gott weg.» Fassungslos blickt Cattani durch die dickrandige Hornbrille: «Ein Gottesdienst ohne Gott? Ja wozu denn überhaupt einen Pfarrer?» Cattani fordert weniger Angst vor Mitgliederschwund. «Wenn uns das egal wäre, könnten wir ein revolutionäres Element sein. Wir könnten uns gegen die staatlichen Richtlinien stellen und Homosexuelle trauen. Wir könnten SVP-Burka-Plakate offiziell als unchristlich verurteilen.» Die Kirche von Jesus, sagt Cattani, sei eine provozierende Minderheitenkirche gewesen. «Die Leute kamen wegen des Inhalts. Nicht weil sie von Geburt an Mitglied waren.»
Später ist Cattani zurück im Saal der Albisrieder Kirche, einem modernen, kryptischen Nachkriegsbau. Er blickt zur Orgel, den leeren Stuhlreihen, zur hohen Decke, die in ihrer Schlichtheit eher an die Tonhalle als an ein Gotteshaus erinnert. Cattani wünscht sich, dass Pfarrer Neumitglieder nicht einfach per Formular aufnehmen, sondern sie auch auf die Relevanz der Taufe aufmerksam machen. Neumitglieder sollten einen Glaubenskurs besuchen, damit sie wissen, was der christliche Glaube beinhalte. «Wir können nicht die Bibel aus der Kirche schmeissen, nur noch von Mutter Natur sprechen und die Leute auf Sonne, Mond und Sterne taufen». Eine Erneuerung, schliesst Cattani, sei doch gerade die Idee der Reformation: Dass man über Theologie nachdenkt. Dass man sich gegen das eingerostete System erhebt. Die nächste Erneuerung wäre konsequenterweise eine Rückbesinnung. Dafür würde er sogar in Kauf nehmen, dass die reformierte Kirche ihren Status als Landeskirche einbüsst. Und damit die ganze öffentliche Finanzierung.
Auch Citykirche-Pfarrer Schwarzenbach, der mit seinen Filmvorführungen und Meditationsübungen nicht wie sein Kollege Cattani den Kern, sondern vielmehr die Aussengrenzen der reformierten Kirche sucht, fände einen Kollaps der Kirche nicht so schlimm. «Eine kleine Kirche kann auch eine Chance sein.» Das Urchristentum, erinnert er, habe auch mit einer losen Gruppe angefangen, die sich auf die Suche nach Gott gemacht habe. «Erst als ihre Macht grösser wurde, kamen die Probleme; die Unterdrückung von Andersgläubigen, die Kriege oder Intrigen.» Während viele ältere Berufskollegen die Kirche mit Betriebskonzepten und Marktforschungen ins 21. Jahrhundert retten wollen, als handle es sich bei der Kirche um ein serbelndes Unternehmen, blickt auch er gelassen in die Zukunft.
Unterstützung erhalten Cattani und Schwarzenbach von Josef Hochstrasser, dem ehemaligen Priester. Kürzlich gab er zum Reformationsjubiläum ein schmales Büchlein heraus. Eine Streitschrift mit zehn Thesen, in welchen er der Landeskirche im Grunde nicht viel anderes wünscht als einen sanften Tod. Und eine Auferstehung. Titel: «Die Kirche kann sich das Leben nehmen». «Sie ist altersschwach, senil, hört und sieht nicht mehr gut», sagte Hochstrasser anfang Februar im Interview mit «Tele Züri». Es sei an der Zeit, dass die Kirchen arm werden – materiell arm. Damit sie gezwungen sind, sich neu zu definieren. Die Kirche solle ihren Status als Landeskirche und damit ihre öffentliche Finanzierung verlieren. «Sie sollte nicht aus Profis und Amateuren bestehen, sondern sich von unten in selbständigen Gemeinden aufbauen, die das Evangelium zusammen interpretieren.»
Noch unterstützen diese Idee nur wenige. Wenig überraschend ist die offizielle Kirche dagegen. Nicolas Mori, Sprecher der reformierten Kirche Zürich: «Die Meinung, dass unsere Kirche den öffentlich-rechtlichen Status verlieren sollte, ist nicht weit verbreitet.» Klar wäre man vielleicht beweglicher, aber die Vorteile überwögen. «Wir dürfen in den staatlichen Schulräumen unterrichten, der Staat zieht für uns gegen Entgelt die Steuern ein. Die Anerkennung hat auch symbolischen Wert: Die Kirchensynode tagt zum Beispiel im Rathaus.»
Ein Sonntagmorgen mitte Februar. Der Stauffacher bei Zürich, die «Citykirche.» Draussen schlürfen Alkis das Sonntagmorgenbier, drinnen peitschen zitternde, schwarze Wogen aus den Orgelpfeifen, durchstochen von dissonanten Schreien. Es ist dunkel, erzählt Patrick Schwarzenbach, der meditierende Pfarrer, auf der Kanzel, für einmal im Korsett der traditionellen Kirche. Die Jünger sitzen in einem Boot, um sie herum tobt ein Sturm.
Dabei wollten sie doch nur ans andere Ufer, weil dort das Gras grüner ist. Bereits ist Wasser ins Boot eingedrungen, und jetzt ist auch noch Jesus eingeschlafen, dabei sollte er seine Jünger doch sicher über den Fluss führen. Die Bibelstelle, die Schwarzenbach den 30 Besuchern der Kirche vorträgt, ist ungewöhnlich düster für die Taufe eines Neugeborenen, aber sie passt an diesem verhangenen Sonntag, in dem Jahr, in dem die reformierte Kirche ihr 500-jähriges Jubiläum feiert und nicht weiter weiss, wie die Faust aufs Auge.
Schwarzenbach stockt. Ein Kind rennt brabbelnd durch die Stuhlreihen. Dann faltet er die Hände über dem Altar und erzählt den zweiten Teil der Geschichte. Die Jünger wecken Jesus, er glättet die Wogen und fragt: «Warum seid ihr furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?» Die Orgel fängt wieder an zu spielen. Die dissonanten Akkorde haben sich fast aufgelöst. Patrick Schwarzenbach streckt die Arme zum Kreuz aus und spricht: «Gott segne dich». Während die Eltern, das Kind hochhaltend, sich vor der Orgel abknipsen lassen, und manche Besucher in Gedanken wohl noch beim Alkoholiker sind, der plötzlich lallend im offenen St. Jakob stand, muss Patrick Schwarzenbach dem Trubel entschwunden sein. Plötzlich ist er weg, und da sind nur noch die plaudernden Gottesdienstbesucher und das leere Kreuz ohne Jesus.