Fertig lustig
Fotografie
vonMarco Frauchiger
Der Wolf kam in der Nacht. Jedenfalls sah Erwin Wyer, nachdem er morgens um 9 Uhr die paar Schritte auf dem Wanderweg Richtung Ergisch gemacht hatte, drei tote Lämmer auf der Weide liegen. Das Fell war am Genick und hinten vom Blut verfärbt. „Ein trauriger Anblick war das.“
Erwin Wyer schickte dem Wildhüter eine WhatsApp-Nachricht mit Bildern der toten Tiere. Der würde ihm helfen, die Schafe von der Weide zu schaffen, damit wenigstens der Fuchs noch etwas davon hätte.
Tags darauf kam einer von der Herdenschutz GmbH auf die Weide. Sagte, in der Nacht müsse er die Schafe einpferchen, sonst springe der Wolf über den Zaun oder er krieche unten durch. In Erwin Wyer, Rentner seit zwei und Schäfer seit 42 Jahren, stieg die Wut hoch. Erst die Arbeit mit Zäunen, dann dieser Anblick, und jetzt kommt auch noch einer und sagt, er habe alles falsch gemacht. Es ist klar: „Der Wolf muss weg.“
Unterbäch, 400 Einwohner, 1200 Höhenmeter, drei Hotels, eine Seilbahn runter ins Tal nach Raron und mit der Bahn eine Station weiter nach Visp, ein Sessellift hoch in die Berge, ins Skigebiet, zum Wandern, von dort aus Blick vom Unterwallis bis hinauf ins Goms. Schattenberge nennen sie den Gebirgszug zwischen dem Turtmann- und dem Vispertal. Im Norden auf halber Höhe liegen Unterbäch, Bürchen, Eischoll und Ergisch. Auf der östlichen Hangseite der 3000 Meter hohen Berge im Vispertal liegen Törbel, Embd und Zeneggen. „Schattenberge“ – dabei scheint die Sonne eigentlich recht häufig.
Auf dem Dorfplatz von Unterbäch befindet sich ein Denkmal aus Bronze. „1957 gingen erstmals seit Bestehen der Eidgenossenschaft in Unterbäch Frauen an die Urne“, steht darauf. 14 Jahre vor der Einführung des schweizweiten Frauenstimmrechts. „Unterbäch, das „Rütli der Schweizer Frau.“ Die New York Times berichtete.
Am Freitag derselben Woche, es ist der 3. Juni, steht ein Kleinlaster vor dem Denkmal. Die Lade ist nach hinten gekippt, so dass gut sichtbar ist, was sich darauf befindet: acht totgebissene Ziegen. „Irgend etwas musste ich machen“, sagt der Bauer, der das Fahrzeug hier geparkt hat, zum Walliser Boten. „Die Politiker bringen ja nichts zustande.“
Am Abend ist der Laster weg. An seiner Stelle errichten der Bauer und Erwin Wyer wenig später ein anderes Denkmal: einen Holzmast, an dem die Treicheln und Glocken ihrer getöteten Tiere hängen. Daneben stellen sie eine hölzerne Tafel, auf der steht: „Gerissene Tiere in Unterbäch 2016.“
„Abschiessen“, fordert der Gemeindepräsident von Unterbäch im „Blick“. 48 tote Schafe, Lämmer und Ziegen zwischen Törbel und Ergisch in diesem Frühling, „es geht einfach nicht mehr.“
Medienmitteilung des Kantons Wallis. „Abschuss eines Wolfes angeordnet.“
„Staatsrat Jacques Melly, Vorsteher des Departements für Verkehr, Bau und Umwelt, erachtet die Bedingungen für den Abschuss eines Wolfes als erfüllt.“
60 Tage haben der Wildhüter und die von ihm bestellten Jäger Zeit. Schiessen dürfen sie nur in einem genau fest gelegten Perimeter, von Agarn bis nach Törbel, und nur, wenn sich der Wolf gerade einer geschützten Herde nähert. Sie müssen ihn also „in flagranti“ erwischen.
Nun ist es aber so, dass nicht nur ein Wolf in den Schattenbergen unterwegs ist, sondern zwei: Ein Rüde, den sie M59 nennen und ein Weibchen mit dem Namen F14. Den Winter haben sie zusammen verbracht. Das zeigen DNA-Proben von Kot und Haaren, die Wildhüter gesammelt und zur Analyse ins Labor nach Lausanne geschickt hatten. Sollten sie sich gepaart haben, würden sie das dritte Wolfsrudel in der Schweiz und das erste im Wallis überhaupt bilden. Als sich an diesem 14. Juni Jäger aufmachen, sind womöglich bereits Welpen auf der Welt.
Dies ruft einerseits Tierschützer auf den Plan. WWF und Pro Natura reichen Beschwerde ein gegen den Abschussentscheid. Denn fehlt ein Elternteil, überleben die Jungwölfe kaum. Andererseits sind aber auch Gesetzeshüter alarmiert. Falls die Wölfe tatsächlich Junge haben, dürfen die Jäger vorerst nicht mehr schiessen. Zwar dürfen Kantone einzelne Wölfe abschiessen lassen, wenn diese grosse Schäden anrichten. Doch für die Regulation von Rudeln ist gemäss Jagdverordnung der Bund zuständig.
Heisst: Sobald bewiesen ist, dass die Wölfe Nachwuchs haben, entscheiden nicht mehr die Walliser, sondern die „Üsserschwizer“ über das Schicksal der Wölfe in den Schattenbergen. So beginnt an diesem 14. Juni im Oberwallis, an dem das Rudel erst eine Vermutung ist, ein Wettlauf gegen die Zeit: Tagsüber warten Wolfsschützer mit Feldstecher und Fotoapparat auf ihre Chance. In der Nacht lauern vom Kanton bestellte Wildhüter und Jäger mit Flinte und Nachtsichtgerät.
Peter Imboden, 44, Betreiber eines Gruppenhauses im Unterwallis, vor allem aber Jäger und Hilfswildhüter, steigt in Visp in seinen 4x4-Geländewagen und fährt um die Passkurven, hoch auf 2000 Meter. Er ignoriert ganz selbstverständlich das Fahrverbotsschild, das ist er sich vom Nebenamt in der Wildhut gewohnt, biegt auf einen breiten Wanderweg ab und fährt weiter bergwärts. Er grüsst die Wanderer, die er überholt, dann parkt er den Wagen in einer Kurve am Wegrand und geht zu Fuss weiter. Er stapft vorsichtig an einer Alphütte vorbei, schaut sich um. Erst als er sich sicher ist, dass ihm niemand folgt, macht er zwei Schritte hinauf in die Böschung am Wegrand.
Kurz nach Bekanntwerden der Abschussverfügung hatte Peter Imboden einen Facebook-Post von WWF und Pro Natura geteilt: „Zerstört das dritte Schweizer Wolfsrudel nicht!!“ Imboden ist in Raron aufgewachsen und ist dort, obwohl er heute einige Kilometer weiter im Unterwallis wohnt, noch immer fest verwurzelt. Seit Anfang Jahr unterstützt er vor Ort die Gruppe Wolf Schweiz – die „Wolfsfreunde aus der Üsserschwiz“.
Nun nimmt er einen kleinen schwarzen Kasten aus dem Grün, zieht einen Chip heraus und legt einen neuen hinein. Dann geht er ebenso unauffällig zurück zu seinem Wagen, steckt die Speicherkarte in eine Kamera und wischt noch vor Ort durch Hunderte von Schwarz-Weiss-Bildern. Auf den meisten ist nichts zu erkennen, die Fotos seien wohl durch einen Windstoss oder ein nicht identifizierbares Tier ausgelöst worden. Kein Wolf.
Ende des 19. Jahrhunderts hatte man den Wolf in Mitteleuropa ausgerottet. Er hatte die wenigen Schafe und Rinder gerissen, Familien ins Elend gestürzt, und das Wild aus den Wäldern gefressen, das die Menschen für sich brauchten. Ohne Wölfe gab es keine Probleme mehr, also feierte man es als einen Meilenstein des Artenschutzes, als man ihn im Jahr 1979 im Rahmen der Berner Konvention unter Schutz stellte. Seit seiner Rückkehr in den 90er-Jahren kippt die Stimmung langsam wieder. Heute leben rund 30 Wölfe in der Schweiz – und mit jedem, der dazukommt, wächst der Widerstand ein bisschen mehr.
Hierzulande sind die grössten Feinde des Wolfes die Walliser. Bereits am 25. November 1998 lag auf der Kadaverstelle in Reckingen ein toter Wolf mit Schrotkugeln im Bauch. Das war M01. Zu illegalen Abschüssen kommt es auch heute noch. Erst im letzten März schwemmte der „Rotten“ – die Rhone – in Raron unterhalb von Unterbäch einen verwesten Kadaver an, der sich später als die Überreste des Wolfs M63 herausstellen sollte.
Gekämpft wird aber nicht nur mit der Flinte, sondern auch mit Initiativen und Motionen. Im Wallis sammelt die CVP derzeit Unterschriften für eine Volksinitiative „Für einen Kanton Wallis ohne Grossraubtiere“. Und im Parlament in Bern reichte der Kanton Wallis eine Standesinitiative ein, die weiter geht als alles andere: Sie verlangt, dass der Schutz des Wolfes ganz aufgehoben werden soll: Aus der Berner Konvention austreten und wieder eintreten, „unter Einführung eines Vorbehalts, der den Schutz des Wolfes ausschliesst.“ Der Titel der Inititative: „Wolf. Fertig lustig!“.
Acht Schwarznasenschafe sind oberhalb von Törbel von einem Wolf gerissen worden. Auf dem Nachrichtenportal „1815.ch“ meldet sich der Landbesitzer zu Wort: „Die Gruppe Wolf Schweiz soll die Kadaver entfernen.“
Zwei Tage später entdecken Fussgänger im Wald in Ergisch eine Fotofalle. „Wir finden das total daneben. Spaziergänger können im Wald im Falle einer Notdurft diese nicht mal mehr verrichten, ohne das Gefühl zu haben, beobachtet oder fotografiert zu werden“, sagen sie zu Radio Rottu Oberwallis. Die Gemeinden Embd, Törbel, Zeneggen, Bürchen, Unterbäch, Eischoll und Ergisch reichen daraufhin Strafanzeige ein gegen die Gruppe Wolf Schweiz, der die Kameras gehören.
Fotofallen sind der praktischste Weg, um die Präsenz von Wölfen zu verfolgen. „Spiegeln“ mit dem Feldstecher ist für die Wildhüter aufwändig, das Analysieren von Kot- oder Haarspuren ist kostspielig und dauert lange. Fotofallen dagegen kosten keine 200 Franken pro Stück und liefern schnelle Ergebnisse. So wurden sie bis vor kurzem auch von Wildhütern des Kantons benutzt. Doch nun ist ihnen das untersagt. Der Grossrat hat das Monitoring – offiziell aus Spargründen – aus dem Budget gestrichen. Weil die Wildhüter im Winter trotzdem Kameras aufstellten, doppelte die CVP Oberwallis mit einem dringlichen Postulat nach – drei Tage, nachdem der Bericht der Wildhüter ein Wolfspaar in den Schattenbergen nachgewiesen hatte. Der Grossrat verbot damit das Monitoring auch gleich Dritten wie der Gruppe Wolf.
„Die Rechtslage ist unklar, was ist denn mit all den Ipods und Iphones?“ David Gerke aus Solothurn-Biberist, im Winter Biber-Projektleiter, im Sommer selber Schäfer, während des ganzen Jahrs Präsident der Gruppe Wolf Schweiz, verteidigt sich. Er trägt Jägerhut, Wanderschuhe, ein schwarz-weiss-militärgestreiftes Shirt, Hündin Mila läuft vorneweg über die Wiesen hoch oben auf 2000 Metern in den Schattenbergen, ungefähr dort, wo sich das Wolfspaar zurzeit wohl befindet. „Mila, chum zu mir! Miiiila!!“
Dass die kantonale Wildhut keine Fotofallen mehr aufstellen darf, sei schon wahnsinnig. Nun müssten die Wildhüter Kotspuren auflesen und sie nach Bern schicken, zur Kora, Raubtierökologie und Wildtiermanagement, und die schicken sie weiter zum Laboratoire de Biologie de la Conservation de l’Université de Lausanne. Das dauert – einen Monat bis man sagen kann, Wolf oder nicht, einen weiteren Monat, bis die DNA fest gestellt ist, also neuer Wolf oder bekannter Wolf. Aber so viel Zeit habe man nicht, sagt Gerke, der Wildhüter und seine Jäger lauern jede Nacht.
Deswegen brauche man die Fotofallen nach wie vor. Trotz Strafanzeige, trotz Verbot durch den Grossrat.
Auch Tag 41 der Wolfjsagd verläuft erfolglos. Einen Tag später verschickt der Kanton eine Medienmitteilung: „Wolfsabschussperimeter ausgeweitet“. Das sei notwendig, um weitere Schäden zu verhindern. Noch 18 Tage.
So viele Risse, das sei schon massiv, sagt David Gerke und liest ein Stück Schafswolle vom Boden auf – ein Überbleibsel eines Risses. Aber man müsse sehen, in zwei oder drei Fällen habe der Wolf ein hohes, gutes Netz überwunden, in 30 anderen Fällen nicht. 90 Zentimeter genügten nicht. Ein gutes Netz müsse 1,20 Meter hoch sein oder idealerweise sogar 1,40 Meter, elektrisch geladen müsse es sein, und vor allem unten am Boden gut gezäunt, denn „meistens schlüft der Wolf“. Die Gruppe Wolf Schweiz helfe auch beim Zäunen. Natürlich biete das Netz keinen 100-prozentigen Schutz, aber man sehe doch, es gebe ja eine Studie aus den Freiburger Voralpen, mit Herdenschutz gebe es weniger Angriffe und weniger Opfer. Mit Herdenschutz 1,5 Tiere pro Angriff, ohne Herdenschutz 5 Tiere pro Angriff. Signifikant.
„Mila, chum hingere! Miiiila!!“
Er müsse aufpassen, man kenne ihn hier und er habe hier nicht viele Freunde, er dürfe keine Fehler machen. Es müsste nicht sein, dass seine Hündin hier eine Gemse reisst. „Chum zu mir“.
Der für die Wolfsjagd zuständige Wildhüter lässt sich mit dem Helikopter eine sechs Quadratmeter grosse Hütte mit Fenstern auf allen Seiten anfliegen. Nachfrage: „Ich schiesse besser, wenn ich nicht halb durchgefroren bin. Die ganze Nacht am Spiegeln, das ist strenge Abeit. Wolfsbefürworter pfuschen rein, fahren mit dem Auto rein, warnen den Wolf. Aber als Amtsperson musst du da cool bleiben.“ Noch 10 Tage.
Zwei Tage später. Georges Schnydrig, Präsident des Vereins Lebensraum Wallis ohne Grossraubtiere, fordert im Walliser Boten: „Die Wolfsjagd muss verlängert werden.“ Seit der Abschussbewilligung seien weitere 22 Schafe und drei Ziegen durch einen Wolf getötet worden. Dem Kanton seien die Hände gebunden, sagt Dienstchef Peter Scheibler, die Jagdverordnung sehe keine Verlängerung vor.
„Was bitte sehr“, fragt Georges Schnydrig, Zürchter von 42 Schwarznasenschafen im Familienbetrieb, früher Eishockeygoalie in Visp, heute Gemeindepräsident in Lalden und Grossrat für die CSPO in Sitten. „Was bitte sehr macht der Wolf für die Natur? Er gehe immer den Weg des geringsten Widerstands, und das seien momentan die Schafe und Ziegen, und wenn wir die Zäune höher machen, reisst er trotzdem, die Schafe und die Ziegen verschwinden, was passiert wohl dann, ja er kommt in die Dörfer und Städte. „Wenn er keine Nahrung mehr findet, sucht er diese vermehrt bei Abfällen und holt sich dort sein Fressen.“
M46, M59, F14. Schnydrig, mit Schnurrbart und in Karo-Hemd und Jeans, sitzt auf der Terrasse des Cafés auf dem Bahnhofplatz in Visp und verwirft die Hände. Mit den Namen kann er nicht viel anfangen. „Stellt euch vor, wie viel Geld dieses Monitoring verschlingt.“ Und dabei seien es heute erst 30 Wölfe, der Bund wolle aber 300 Wölfe flächendeckend in der gesamten Schweiz.
Das Wallis, erklärt Schnydrig, sei nicht vergleichbar mit anderen Kantonen. Erstens gebe es den Alpbewirtschaftungsplan, der festhält, dass 60 Prozent der Alpen nicht schützbar seien. „Was also können wir machen, wenn wir sie nicht schützen können?“ Zweitens: im Wallis seien die Betriebe kleinstrukturierter als in anderen Regionen. Hier besitze jeder 20 bis 30 Schafe und nicht 300. Die Tiere grasen zusätzlich zur Alpung auf drei bis fünf Frühjahrs- und Herbstweiden, die müssten ja alle gezäunt werden, und dann auch noch Hunde. „Der Herdenschutz, das ist ein Fass ohne Boden.“
Der Staat gibt viel Geld aus für Landschaftspflege und Herdenschutz. Für die ständige Behirtung einer Herde von 500 Schafen zum Beispiel gibt es zwischen 15’000 bis 20’000 Franken pro Jahr. Ein Herdenschutzhund wird mit 1100 Franken jährlich entschädigt. Wolfsbefürworter rechnen vor, dass es sich ab rund 300 Schafen lohnt, einen Hirten anzustellen. Aus diesem Grund fordern sie, dass sich die Schäfer zusammentun, denn Platz habe es auch im Wallis auf vielen Alpen genug.
Doch es gehe nicht um Geld, beteuern Wolfsgegner, es gehe um Tradition. „Im Wallis ist Schaftzucht auch ein Kulturgut und Tradition, die Familienbetriebe werden vielfach von einem Sohn oder einer Tochter übernommen und weitergeführt“, sagt Schnydrig. Oder anders gesagt: Im Wallis besitzt praktisch jeder ein paar Schafe, und wenn nicht, dann aber der Vater, Bruder oder Onkel. Womöglich ist das so gekommen, weil Landwirtschaftsbetriebe im Wallis über Generationen unter den Kindern aufgeteilt wurden, während anderswo der ganze Betrieb an den Erstgeborenen ging und daraus mit der Zeit Grossbetriebe entstanden.
Schnydrig beugt sich vor. „Viele, die am Computer in Zürich aufwachsen, haben keine Ahnung, was in der Natur abgeht und wie es ist, Nutztiere zu halten.“ Er glaube, dass Städter ja auch nicht wollten, dass der ländliche Raum vergandet, wo sie sich erholen und wo sie ihre Wanderungen machen. Sie wollen dem Wolf helfen, weil sie meinen, damit der Natur etwas Gutes zu tun. „Die machen das nur, um ihr schlechtes Gewissen gegenüber der Natur zu beruhigen.“ Was, fragt er sich, was bitte sehr machen die Städter für die Natur?
Aber er habe ja auch Verständnis für sie, viele hätten gar nicht die Möglichkeit, die Landschaft zu pflegen und Nutztiere zu halten, und darum fehlt ihnen auch das Wissen. Für ihn ist klar: „Wenn sich die Wölfe weiter ausbreiten, dann zieht sich die Landwirtschaft aus dem Alpenraum zurück.“ Und so weit dürfe es nicht kommen. Darum müsse man das jetzt auf politischer Ebene durchsetzen, darum der „Verein Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere“, er als Präsident des Walliser Ablegers, man sei gut vernetzt, auch mit Deutschland, Italien, Frankreich.
Eine Woche später: Zehn tote Schafe auf der Rinderalp, 500 Höhenmeter oberhalb von Unterbäch. Acht Schafe liegen tot auf der Weide, Blutspuren am Gesäss und am Genick. Erwin Wyer, der Rentner aus Unterbäch, wischt durch die Bilder auf seinem Handy und schickt dem Wildhüter eine Auswahl davon per WhatsApp. Zwei weitere Schafe werden sie tags darauf gemeinsam halb verstümmelt im nahen Wald finden.
Erst die fünf Tiere auf der Frühjahrsweide unten in Unterbäch, nun noch einmal zehn oben auf der Sommerweide. Anfang Jahr besass Erwin Wyer 57 Schafe, nun sind es noch 42. Die Tierschützer aus den Städten müssten sich das mal überlegen: Zwar beschweren sie sich ständig, dass im Stall zu wenig Licht sei, dass die Schafe nicht richtig geschert würden. „Aber das hier, dass diese Schafe stundenlang leiden mussten, das ist ihnen egal.“ Früher sei alle paar Jahre der Luchs gekommen und habe sich ein Schaf geholt, aber das hier sei etwas anderes, der Wolf lasse einfach alles liegen. „Kein Biss Fleisch weg.“
Der Blick titelt: „Der Wolf frisst sich schon wieder abschussreif.“ Im Walliser Boten fordert Georges Schnydrig eine neue Abschussverfügung. Schon 33 Tiere seien seit der Abschussverfügung von Mitte Juni gerissen worden. „Weil die Schafe und Ziegen in spätestens drei Wochen abgealpt werden, drängt die Zeit.“ Jagdchef Scheibler: „Morgen wird entschieden und über eine allfällige neue Abschussverfügung informiert.”
Einen Tag später.
Im Bild zu sehen ist ein Jungwolf vor einem Felsen. Damit ist eine neue Abschussverfügung vom Tisch. Will der Kanton Wallis nun Wölfe aus dem Rudel schiessen, braucht er die Zustimmung des Bundes.
Das Foto gemacht hat eine Privatperson, heisst es. Diese habe es dem Bundesamt für Umwelt geschickt, und der Bund hat es dem Kanton weitergeleitet. Diese Privatperson ist Ralph Manz, Walliser, 10 Jahre lang Revierförster, dann 10 Jahre beim WWF Oberwallis, heute Projektmitarbeiter bei der Kora fürs Wildtiermanagement. Und die Kora ist beauftragt vom Bund für das Wolfsmonitoring.
Ausgerechnet jetzt, so kurz vor einer neuen Abschussverfügung, ausgerechnet er, der Mann von der Kora, und während 60 Tagen Jagd hätten zwei Dutzend Jäger nichts von einem Wolfsrudel bemerkt. Im Namen des Vereins Lebensraums Wallis ohne Grossraubtiere schreibt Georges Schnydrig einen Leserbrief im „Walliser Boten“: „Der Verein zweifelt das Wolfsrudel an.“
Natürlich, das sei schon ein Riesen-Zufall gewesen, sagt Ralph Manz am Telefon. Es habe eine Sichtbeobachtung gegeben, ein Fussgänger hatte den Wolf mit drei Jungtieren beobachtet. Die Schilderung der Beobachtung sei für ihn zutreffend für einen Wolf mit Welpen gewesen. Er sei eine Woche später privat ins Gebiet, Feldstecher, Fernrohr und Fotoapparat habe er immer dabei. Dass er aber tatsächlich einen Jungwolf sehen und ihn auch gleich fotografieren könne, hätte er natürlich nie und nimmer gedacht.
Nachdem sie beim Kanton das Foto erhalten haben, macht sich Urs Zimmermann, Verantwortlicher für das Monitoring der Grossraubtiere im Oberwallis, auf zur Eischollalp, stellt sich exakt an die Stelle, an der das Foto gemacht wurde, sieht den Felsen auf dem Bild, schaut das Foto an und sagt: „Für mich war es sofort klar, dass das Foto der nötige Nachweis für ein Rudel ist.“ Gerne würde er nun die Anzahl Jungwölfe ermitteln, sagt er. Weil der Grossrat das Fotofallen-Monitoring untersagt hat, versucht man das beim Kanton nun mit genetischen Analysen von Losungsfunden.
Walliser Bote. Die Präsidenten der Gemeinden in den Schattenbergen sind verärgert. Der Kanton würde in der Augstbord-Region von der Präsenz eines Wolfsrudels ausgehen. „Dabei verfügen die Behörden über keinen eindeutigen Nachweis», sagt Urs Juon, Gemeindepräsident von Törbel. Noch im Frühling hatten sie gegen die Gruppe Wolf Schweiz Strafanzeige wegen des Aufstellens von Fotofallen eingereicht. Nun wollen sie endlich Klarheit und wären „sofort bereit, zur Installation von Fotofallen Hand zu bieten.“ Verbot durch den Grossrat hin oder her.
Der kantonale Jagdchef sagt, auch ohne Fotofallen mache man Fortschritte. Anfang September hätten Wildhüter in einem Lärchenwald, in der Nähe des Ortes, wo das Foto des Jungwolfs geschossen wurde, eine Stelle entdeckt, an der sich mehrere Wölfe aufgehalten haben müssen. Man habe Kotspuren zur Analyse eingeschickt.
Hochjagd im Wallis. Halb sechs Uhr morgens, eine halbe Stunde Fussmarsch oberhalb von Chandolin im Unterwallis, auf über 2000 Metern. Peter Imboden winkelt die Beine an und setzt sich auf ein Stück Schaumstoffmatte, das Gewehr legt er auf den Rucksack. Dann liegt er still da. Eine Stunde, es dämmert. Zwei Stunden. Ab und zu sucht er mit dem Zielfernrohr den Waldrand ab. Graue Barthaare lassen ihn etwas ungepflegt erscheinen, ein furchiges Gesicht mit schmalen Augen.
Klar würde er den Wolf schiessen, wenn er müsste. „Kein Problem.“ Er sei ja im Nebenamt Hilfswildhüter, und das würde dann zum Job gehören. Imboden hat Ferien genommen vom Job. Das mache er immer so im Herbst, 2 Wochen mit der Jagdgruppe, das sei ihm heilig. Heute zielt er aber nicht auf den Wolf, sondern auf Wild. Aber es tauchen keine Hirsche, Rehe oder Gemsen in der Lichtung auf.
Um 8 Uhr gibt Imboden den Plan auf und läuft ein paar Schritte hinauf zur „Alpage de Chandolin“. Er kennt die beiden jungen Frauen, die hier arbeiten. Die Sennin füttert ihre Hühner, die Hirtin ist gerade erst aufgestanden und macht Frühstück. Die beiden haben Zeit, Kühe und Schweine sind bereits abgealpt, sie bitten Imboden hinein. Es gibt Kaffee, Eier und getoastetes Brot mit Konfitüre umd selbst gemachtem Käse. Imboden lenkt das Gespräch auf den Wolf. Er sagt: „Wir haben der Natur so viel weggenommen, jetzt ist es mal an der Zeit, ihr etwas zurückzugeben.“ Die Hirtin, etwas erstaunt, dass Imboden „Pro-Wolf“ ist, ist skeptisch, aber gesprächsbereit. „Das hier ist ja nicht Natur, es ist Kultur.“
Ein Satz, der im Wallis oft zu hören ist: Der Wolf gehöre nach Sibirien, aber nicht hierher, ins Oberwallis. Für die Walliser ist es das grösste Missverständnis zwischen Städtern und ihnen: Das Wallis ist kein Naturreservat, sondern ein Lebensraum. Hier habe der Wolf keinen Platz. Der Wolf hole sich die einfachste Beute. Wenn er die Schafe nicht mehr haben könne, komme er in die Dörfer. „Der Wolf“, sagen sie, „ist ein Opportunist.“
Fragt man wiederum Wolfsbefürworter, sagen sie, dass der Wolf ein Kulturfolger sei, dass er mit unserer Landschaft und unserer Siedlungsdichte gut zurecht komme. Dass er als Waldtier bekannt sei liege nur daran, dass der Mensch ihn aus offeneren Landschaften vertrieben habe. Und der Wolf sei scheu, greife Menschen nicht an. Wenn die Schafe gut geschützt seien, dann reisst er Wild und reguliert damit die Bestände. „Der Wolf“, sagen sie, „ist ein guter „Polizist“.
Peter Imboden läuft von der Alp hinunter nach Chandolin, wo er mit Freundin Claudia ein Gruppenhaus betreibt, das vor vielen Jahren einmal ein Grand Hotel war. Ein Husky wartet im Eingang. Imboden sagt: „Der Wolf, der muss jetzt einfach mal duremöge.“
Erst seit einem Jahr setzt er sich für den Wolf ein. Vor ein paar Jahren noch, bei einer früheren Abschussverfügung, wollte er mit auf Wolfsjagd. Da habe Claudia, Deutsche mit Ausbildung zur Rangerin und Abschlussarbeit über den Wolf, getobt. Da sei er nicht gegangen. Claudia sagt, dass sich Peter für den Wolf einsetzt, tue ihm gut. „Er hat eine Aufgabe gefunden.“
Seit er Wölfe bei einem Besuch im Yellowstone Nationalpark mit eigenen Augen gesehen habe, würde er anders denken, sagt Imboden. Es werde stets nur über die Schäden durch den Wolf berichtet, und kaum je über die Vorteile für Forst und Jagd. Dass Jäger und Wölfe Konkurrenten um die Beute sind, stimme nicht. Der Wolf reguliere, schaffe Ordnung, nehme nur die alten und kranken Tiere, und die Rotwild-Bestände seien nach wie vor gross genug. Früher war Imboden Mitglied der SVP, seit die den Wolf schiessen wollen, „eher Grüne.“
Dass ausgerechnet ein Wildhüter Pro-Wolf ist, ist für viele Walliser eine Provokation. Im Juni war ein Beitrag über Imboden auf „Tele Rottu Oberwallis“ erschienen. „Ein Hilfwildhüter aus dem Oberwallis sorgt bei Schäfern aus der Region für rote Köpfe“, hiess es. Auch die kantonale Dienststelle für Jagd habe interveniert. In einem Brief verlangte Dienstchef Scheibler von Imboden eine Stellungnahme. „Es geht einfach nicht, dass Leute von Dienststellen in Extremorganisationen tätig sind und nur die eine oder andere Seite vertreten.“
Imboden brachte wenige Tage später einen Brief zur Post, zwei A4-Seiten lang. Von der Jagdverwaltung aber habe er nie mehr etwas gehört.
Im Beitrag des Regionalfernsehens wurde Imbodens Name nicht genannt, er wollte anonym bleiben. Stattdessen gab Präsident David Gerke Auskunft. Imboden sagt, er habe keine Probleme gewollt, ausserdem traue er den Walliser Medien genauso wenig wie den Politikern.
Während Imboden in der Küche ein Raclette vorbereitet, erzählt er, dass er am Morgen eigentlich mit der Jagdgruppe im Oberwallis hätte jagen gehen wollen. Zu viert bewohnen sie immer im Herbst für zwei Wochen ein Chalet in Bürchen. Sie gehen täglich auf Hochjagd, zumindest so lange, bis sie einen Hirsch haben, dann nehmen sie es gemütlicher. Gestern aber habe es Streit gegeben, „das hat mich schon etwas getroffen“. Die Jagdkollegen hätten gesagt, er solle aufhören mit dem Zeug.
Dabei, sagt Imboden, sei er doch lösungsorientiert, zu Kompromissen bereit. „Manchmal muss man einen Wolf einfach schiessen.“
Im Wallis, schreibt der investigative Walliser Journalist Kurt Marti in seinem Buch „Tal des Schweigens“, bestehe ein Mehrheitsclan aus Politikern, Medien und Justiz, der von den dominierenden C-Parteien gesteuert werde. „Wenn man zu diesem Clan gehört, kann man sich fast alles erlauben. Wenn nicht, stösst man auf Misstrauen, Ausgrenzung und ein Meer des Schweigens“.
Als Imboden die Meldung des Nachweises über das Wolfsrudel auf seiner Facebook-Seite postete, kommentierte ein Freund: „Bist stolz darauf, gell. Hätte dich anders eingeschätzt. Aber jetzt habe ich erfahren, dass du für den Wolf bist. Ich hoffe, ich sehe dich nicht mehr.“
Imboden antwortete mit Smileys und Daumen nach oben. Ja, er habe Freude.
„Schön für dich“, war das letzte, was Imboden vom Freund hörte.
Am 25. Oktober verschickt der Kanton Wallis eine Medienmitteilung. „Neuer Wolf in der Augstbordregion nachgewiesen“. Es handle sich um die Wölfin F22. Nachwuchs des Wolfspaars? Das lasse sich nicht sagen. Denn aus den DNA-Proben liessen sich keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen bekannten Wölfen herauslesen. „Wo ist das Wolfsrudel?“, fragt der Verein Lebensraum Wallis ohne Grossraubtiere ein paar Tage später in einem Leserbrief.
Zwei Wochen später präsentiert der Kanton die „Schadensbilanz Wolf“. 187 Schafe und Ziegen habe der Wolf in diesem Jahr im Wallis getötet, davon 34 in geschützten Situationen. Alleine zwischen Ergisch und Törbel hätten die Wölfe 138 Nutztiere gerissen.
Am Tag darauf:
Der Kanton beantragt beim Bund den Abschuss eines Jungwolfs. Zwischen Juli und Oktober seien 17 Nutztiere in geschützten Situationen gerissen worden, die Voraussetzungen des Bundes damit erfüllt. Bis Ende Jahr sollte der Bund Antwort geben, von Januar bis März könnte geschossen werden.
Und wieder wird gefragt werden: Soll der Wolf leben oder soll er sterben? Und wieder wird man sich nicht einigen können, weder die Facebook-Gruppen „Freunde der Augstbord-Wölfe“ und „Augstbord-Wölfe? NEIN DANKE“, noch die Politiker im Bundeshaus in Bern. Und wieder werden die Medien die beiden Gruppen gegeneinander antreten lassen.
Schäfer Erwin Wyer hofft, dass sie den Wolf bald schiessen. Peter Imboden findet, der Wolf müsse jetzt einfach einmal „duremöge“. Die Präsidenten der Schattenberg-Gemeinden fordern ein Fotofallen-Monitoring – auch verboten, wenn es sein muss. Die Grossräte von der CVP wollen aber kein Geld ausgeben für 200-fränkige Fotofallen. Der Kanton kann darum den endgültigen Beweis eines Rudels nicht erbringen. Trotzdem will er ein Jungtier abschiessen lassen.
Das Bundesamt für Umwelt arbeitet an der Teilrevision des Jagdgesetzes, um den Kantonen die Regulation von Rudeln zu übertragen. Diese könnte aber bald hinfällig werden, weil die Nationalräte etwas anderes wollen: Den in der Berner Konvention fest gehaltenen Schutz des Wolfes ganz aufheben, 101:83, austreten und wieder eintreten, „Wolf fertig lustig.“ Die Ständeräte wollen das aber nicht, 26:17. Im März werden sie abschliessend entscheiden.
Als Bundesrätin Doris Leuthard das Parlament darauf hinwies, dass die Annahme der Walliser Initiative „Wolf. Fertig lustig!“ die gleichzeitig laufende Revision der Jagdverordnung hinfällig machen würde; also noch einmal von vorne begonnen werden müsste, sagte sie: „Sie entscheiden, was Sie wollen.“
Am 18. November verschickt Imboden per WhatsApp ein Dutzend Fotos. „Vertraulich“, schreibt er dazu. Darauf zu sehen sind bis zu vier Wölfe pro Bild. Fünf Tage später macht David Gerke daraus eine Medienmitteilung. „Der Gruppe Wolf Schweiz ist es gelungen, das Wolfsrudel mehrfach fotografisch nachzuweisen.“
Georges Schnydrig reagiert in einem Interview mit dem Regionalfernsehen „Kanal 9 Wallis“. Es sei ein Armutszeugnis für den Kanton, dass es die Wildhüter nicht geschafft hätten, das Rudel zu fotografieren. Dem zuständigen Staatsrat Jacques Melly müsse das Wolfs-Dossier entzogen werden. „Er hat bewiesen, dass er nicht fähig ist, in der Region für Ordnung zu sorgen.“