Im Strahlenland
Fotografie
vonNicolas Zonvi
Ein Bauernhaus auf einer Anhöhe 200 Meter über dem Atomkraftwerk Beznau. Ein Bub stellt sein Mofa in die Scheune, er parkiert es in einer Reihe neben die anderen blank geputzten Sammlerstücke. Er zieht seinen Helm vom Kopf und blickt über die Strasse hinweg, den Hang hinunter zur Aare auf die beiden Reaktoren. «Nach Fukushima hat man schon runtergeschaut», sagt er. Angst habe er aber auch damals nicht gehabt. Er zuckt mit den Schultern, lacht und wendet sich ab. Sein Nachbar, der daneben die Sportfelgen seines Kleinwagens poliert, meint: «Wenn etwas passiert, sind wir hier schnell tot.» Fast beiläufig fügt er an: «Ihr Zürcher müsst nur eine halbe Stunde länger warten.»
Gegenüber AKWs habe ich ein Unbehagen verspürt, seit mir mein Vater eines Tages erzählte: «Wir waren in einem Restaurant in Rom. Und plötzlich konnten wir keinen Salat mehr bestellen.» Irgendwo in Russland sei ein Unfall passiert. Ewas mit Radioaktivität, habe der Kellner gesagt.
Damals war ich noch ein Kind. Was ist diese radioaktive Strahlung? Und weshalb darf man wegen eines Reaktorunfalls 1700 Kilometer weit weg in Rom keinen Salat mehr essen? Ich verstand nichts. Ausser, dass irgendwo da draussen eine unsichtbare Gefahr lauerte, die ganze Städte zerstören konnte.
Als die Nuklearkatastrophe in Fukushima geschah, hatte ich die Anekdote meines Vaters längst vergessen. Doch nun war die Angst zurück. Ich habe Freunde in Tokyo, ich bangte mit ihnen. Und ich fragte mich wie so viele Menschen in diesem Land:
Könnte Fukushima auch in der Schweiz passieren?
Mein Verstand sagt: Hier gibt es keine Tsunamis. Schweizer Kernkraftwerke sind erdbebensicher. Und doch ist da diese subtile Angst, die ich über Jahre verdrängt hatte. Sie wurde präsenter, als ich den Medien entnahm, dass der Reaktordruckbehälter von Beznau I wegen Materialfehler über 1000 Schwachstellen aufwies. Er steht seit März 2015 still und die Betreiberin Axpo – vollumfänglich im Besitz der öffentlichen Hand – weigert sich den Bericht öffentlich zu machen. Vielleicht, dämmerte es mir, muss ich mich dieser Angst stellen. Dann würde sie sich verflüchtigen.
Es war Sommer; ich hatte ein paar Tage Zeit. Also packte ich Zelt und Kleider auf den Gepäckträger meines Velos und radelte los. Die Tour war klar abgesteckt: Von Zürich über die Halbinsel Beznau und Leibstadt nach Gösgen, drei von vier Schweizer Atomkraftwerken, insgesamt 100 Kilometer. Alles in allem: Ein wohl durchdachter Plan, an dem es, da bin ich mir auch im Nachhinein sicher, nicht gelegen haben kann.
Als ich in der Nacht auf dem Zeltplatz von Bad Zurzach ankomme, herrscht dort eine unwirkliche Stille. Der Platz ist voll, aber aus den Wohnwagen kommt kein Mucks. Sind das nur leere Hüllen? Der Platzwart antwortet: «Nach zehn Uhr hört man hier nichts mehr. Sie sitzen alle vor ihren Flatscreens.» Auch bei Tageslicht am folgenden Morgen: Eine Fläche mit rechtwinklig angeordneten Wohnwagen, ein einziges Flugzeug am Himmel und immer noch kein Mucks. Den Platzwart finde ich im Empfangscontainer. «Ich habe noch nie einen Campingplatz gesehen, wie diesen hier», raunt er mir zu. Auf dem Platz seien nur Rentner – griesgrämige Menschen, die sich über jeden Mückenfurz aufregen würden. Etwa, wenn das Zauntor offen steht. Oder wenn der Hunderasen, den er extra kurz schneidet, damit die Hunde komfortabel hineinscheissen können, am Zaunrand ein paar Zentimeter zu hoch ist. Der Platzwart langt sich an den Kopf, fixiert mich und sagt: «Das ist doch krank.»
Vom Campingplatz bis nach Döttingen, dem Dorf mit dem Beznau-Meiler, sind es nur ein paar Kilometer. In einem Tempo-30-Quartier, abgeschirmt vom Schwerverkehr der Umfahrungsstrasse, mit Rasen so korrekt geschnitten wie die Kugelbüsche und einem Fischteich, der aussieht wie ein Swimmingpool, wohnt Gemeindeammann und Atombefürworter Peter Hirt.
Der Mann mit dem goldenen Ohrring, dem Schnauz, und dem aufgeknöpften Hemd, hat nicht gerne Journalisten im Haus. Er bietet mir aber eine Tour durchs Dorf an. In seinem weissen Jaguar zeigt er mir die Hauptstrasse mit ihren Cafés und Restaurants, erzählt vom guten Döttinger Wein und führt mich auf den Haushügel, von dem aus man die Aare, das Naturschutzgebiet und den Rebberg sieht. „Man nennt es das Tessin der Deutschschweiz“, sagt Hirt.
Er will den Begriff AKW nicht benutzen. «Wir reden von Kernkraftwerken». Die Atom-Gegner kann er nicht verstehen. Hirt verdreht die Augen und sagt: «Ich kann sie nur bedauern.» Sie seien stur und würden aus jedem «Muggenschiss» ein Problem machen. Sie begriffen nicht, dass Sicherheit das höchste Gut für die Betreiber des Kernkraftwerks Beznau sei.
Einer von ihnen ist Hirts Nachbar Gerhard Graf. Er wohnt direkt an Bach und Waldrand, umringt von Blumen, einem Biotop und mannshohem Gras. Vor dem Haus steht ein Hybrid-Auto, auf dem Dach eine Fotovoltaikanlage. Gerhard Graf verheimlicht seine Einstellung nicht. Zum Interview erscheint er im T-Shirt der Atomstrom-Gegner, an seinem Haus ist der Wegweiser «Noch zwei Kilometer bis zum ältesten AKW der Welt» montiert. Als ich ihn nach dem wuchernden Gras in seinem Garten frage, grinst er. Für manchen sei das eine Sauerei. Doch ihm gefalle es. Früher seien sogar Enten und Hängebauchschweinchen über seine Wiese gerannt.
Gerhard Graf sagt: «Atombefürworter sollen nach Fukushima gehen. Vielleicht ändern sie dann ihre Meinung.» Er glaubt, dass die Döttinger die Gefahr ausblenden. Sie seien blauäugig, wenn sie glaubten, ihr AKW sei sicher. Offen streitet er mit seinem Nachbar aber nicht mehr über das AKW. «Ich will die Freundschaft nicht riskieren», sagt Graf. Und Hirt meint: «Das haben wir zu Genüge getan.»
Im Dorf sind die beiden Reaktoren kein Thema. Man sieht sie gar nicht und auch in der zwölfseitigen Infobroschüre über Döttingen ist das AKW nicht abgebildet. Fragt man die Leute, ob sie Angst haben, ist die Antwort immer die gleiche: Das AKW ist ungefährlich. Die Probleme sind in Fessenheim, Deutschland, Tschernobyl. Die Japaner seien korrupt, die Schweizer Betreiber nicht.
Die Döttinger waren nie besonders kritisch gegenüber ihrem AKW. Als der Gemeinderat im Februar 1964 über den Bau des ersten Schweizer Atomkraftwerks informiert wurde, gab er sofort grünes Licht. Das hat sich zumindest steuertechnisch gelohnt. In den wirtschaftlich besten Zeiten mussten die Betreiber den Döttingern so viel an Steuern abdrücken, dass sich das Dorf in die steuergünstigste Gemeinde des Kantons Aargau verwandelte. Heute sind es vor allem die Arbeitsplätze, die überzeugen. Das AKW beschäftigt über 500 Arbeiter, 100 davon aus Döttingen und den angrenzenden Gemeinden.
Tiefe Steuern und Arbeitsplätze: Gerhard Graf verzieht das Gesicht, wenn er solche Argumente hört. «Ein Terroranschlag würde genügen, um einen Super-GAU zu verursachen.» Sollte das geschen, würde Graf sein Haus wohl für immer verlassen müssen. Er wohnt in der Schutzzone 1, die laut Greenpeace bei einem Unfall wie in Tschernobyl oder Fukushima für Jahrzehnte gefährlich verstrahlt bliebe.
Um mir zu zeigen, wie sich die drohende Gefahr anfühlt, führt er mich in den Wald hinter seinem Haus. Ich bin etwas unruhig, doch die grüne Hölle ist ein Paradies: Lehm, Laub und Wurzeln, eine Aare die langsam vor sich hin fliesst und ein Pfad, der sich in den Bäumen verliert. Kein Lärm, kein Gestank, keine Stromleitung. Am liebsten würde ich eine Luftmatratze aufblasen und mich flussabwärts nach Deutschland treiben lassen.
Dann taucht das AKW doch noch auf. Zwei Deckel, die man leicht mit Silos verwechseln könnte, auf einer Insel, die einst von Kleinbauern bewohnt war. Kein Kühlturm und keine Containment-Kugel – ganz zahm fügt sich das älteste AKW der Welt in die Natur. «Die Axpo zieht ein grünes Mäntelchen an. Sonst würden sich viel mehr Leute auflehnen», sagt Graf.
Bei Gerhard Graf und Peter Hirt fühle ich mich wie in der Politsendung Arena: Pragmatiker diskutieren theoretisch über ein Thema, das sie längst nicht mehr berührt. Es ist ein Spiel. Ein Wahlkampf, indem die Regeln und Fronten gesetzt sind. Möge derjenige mit den besseren Argumenten gewinnen. Ich aber bin hier nur Statist.
«Sie müssen lediglich dem Kühlturm folgen», sagt der Beizer, dem ich auf dem Weg nach Leibstadt, dem zweiten Atommeiler meiner Tour, begegne. Sein Mund besteht nur aus dünnen Lippen und Unterzähnen. Er grinst und fügt hinzu: «Eusi rauchendi Bluemevase.»
Leibstadt ist noch viel kleiner als Döttingen. Ein paar hundert Häuser, eine Hauptstrasse, ein Volg, eine Kasse und zwei Kunden. Das AKW wirkt so wie das Schloss von Lord Sauron neben Hobbitland: Ein Kühlturm, drohend wie ein geschwollener Zeigefinger, Beton, Barrikaden, Stacheldraht und Panzersperren.
Dass ich hier nicht willkommen bin, merke ich schnell. Wenige Minuten fahre ich dem Zaun entlang und schon kreuzt mich ein Velofahrer in blauer Uniform. Ich grüsse ihn – von ihm kommt kein Ton. Die Begegnung ist so kurz, dass ich sie nicht einordnen kann. War das ein misstrauischer Blick, der mir unter seiner Baseballkappe entgegenfunkelte? Sind das Reifengeräusche, die mich verfolgen?
Als ich mein Velo ein paar hundert Meter weiter an den Zaun stelle, habe ich sofort Gesellschaft. Ein Mann mit struppigen Haaren, an dessen Hosentasche ein Badge klemmt, schaut mich an und sagt: «Es hat keinen Rauch, nicht?» Dann grinst er. Er sei Mechaniker. Das Werk befinde sich gerade in Revision und er tausche hier Ventile aus.
Dann rollt ein Typ in Uniform auf mich zu. Er stoppt sein Velo und baut sich vor mir auf, in einer Distanz, die noch anständig, aber nahe genug ist, um mich im Notfall am Abhauen hindern zu können. Jetzt beginnt die Fragerei: Wer ich sei? Was ich hier mache und für wen ich arbeite? Ich sage, dass ich wissen will, wie die Leute ticken, die in einem AKW arbeiten. Er sagt: «Sie dürfen hier keine Fragen stellen.»
Ich frage, ob man hier nicht Velo fahren dürfe. Er sagt, doch. Ich frage, ob er den Auftrag habe, Journalisten wegzuweisen. «Wenden Sie sich an die Pressestelle.» Ich steige auf mein Velo. „Sie dürfen noch nicht gehen.» Der Wachmann spricht ein paar unverständliche Worte in sein Funkgerät und befiehlt dann: «Ich muss ihren Ausweis sehen.» Als er mich weiterfahren lässt, ist der Mechaniker längst weg. Er hatte sich mit den Worten «Ich gehe jetzt besser» verabschiedet.
Zurück in Leibstadt wird das AKW doch noch etwas menschlicher. Ein junger Mann trinkt mit seinen Kumpels vor dem Volg Dosenbier. Er trägt denselben Badge wie der Mechaniker, also frage ich ihn, ob er auch im AKW arbeitet. Er nickt. „Hat man da Angst im Reaktor?“ Er schüttelt den Kopf. Er arbeite schon seit Jahren dort. Da sei alles sicher. Er würde immer mit zwei Dosimetern herumlaufen und werde am Feierabend genauestens kontrolliert. «Man erzählt uns, die Strahlung würde uns nichts ausmachen.» Doch ein Restrisiko bestehe natürlich schon.
Dann deutet er auf den Schlafsack, der von meinem Gepäckträger baumelt. «Wo pennsch?» Er campiere bei einem Bauern, zusammen mit anderen AKW-Arbeitern. Ich müsse meine Absichten allerdings vor dem Bauern geheim halten, weil der mich sonst rauswerfen würde. «Die Bauern hier sind von der SVP. Die haben alle etwas gegen Journalisten.» Ich nehme die Einladung gerne an.
Runter ins Loch, steil wieder hinauf und vor mir liegt der improvisierte Campingplatz. Ein Bauernhof am Waldrand, umgeben von einem Dutzend Wohnwagen, eine Toi-Toi-Toilette und eine einfache Dusche. Der Bauer mit den kurzen Hosen und den Wanderschuhen ist nett, sofort bietet er mir einen Platz und ein Steak an.
Die Stimmung erinnert an ein Pfadilager: Auf dem Hügel zwischen Waldrand und Scheune sitzen ein paar Typen in Klappstühlen um ein Feuer. Sie grillieren, trinken Bier. Zwar erkenne ich ihre Gesichter nicht, sie wirken aber vertrauenswürdig. Ein paar Bären, die sich gegenseitig hochnehmen, lachen und mir kräftig die Hände schütteln.
Je länger der Abend wird, desto mehr erzählen sie. Der Bauer arbeitet im AKW Leibstadt und bessert sich so sein Einkommen auf. Jeden Sommer, wenn das AKW in Revision ist, lässt er die Arbeiter auf seinem Grundstück campieren. Seine Gäste sind Saisonniers: Schweizer Atomkraftwerk-Spezialisten, die in den Philippinen, in Italien oder Israel wohnen und für die Revision in die Schweiz eingeflogen werden. «Wenn du hier in drei Monaten 12’000 Franken verdienst, kannst du in anderen Ländern für den Rest des Jahres leben», sagt der Grosse, der in Israel ein Startup mit Kartonvelos für Kinder gegründet hat.
Nach ein paar Bier sage ich, dass ich als Journalist hier bin. Darauf kommen die Jungs richtig in Fahrt: «Wenn du den Joint sehen willst, musst du lange aufbleiben» oder: «Beunruhigt es dich, dass Junkies beim AKW arbeiten?» oder: «Du hast doch einen Bart, bist du ein Schläfer?» Ich höre nur noch Gelächter.
Ob ich es wirklich mit AKW-Arbeitern zu tun habe? Ich schaue sie mir genauer an, doch der Fackelschein macht es mir nicht einfach. Neben mir sitzt ein Hüne mit Zopf und Holzfällerhemd. Sie nennen ihn Easy Rider. Daneben ein Kleiner in Bomberjacke mit Pilotenabzeichen. Mit seinem fleischigen Gesicht und den gebleichten Haaren wirkt er wie ein Alt-Rocker. Sein Amischlitten passt zu ihm wie zu Kurt Russell in Tarantinos Death Proof.
Lustig sind sie ja. Aber will ich denen mein AKW anvertrauen? Die Haudegen merken, dass ich mich unwohl fühle und grinsen. Um noch einen draufzusetzen, feuert der Eine einen Anderen an: Zeig ihm das Selfie, zeig ihm das Selfie. Der Andere holt sein Handy aus der Tasche. Ich sehe zwei Typen im Raumanzug, blaues Licht und Rohre. «Was ist das?» frage ich ihn. Er antwortet stolz: «Wir haben ein Selfie im Reaktorgebäude gemacht. Das ist strikt verboten.» Darauf folgt zwischen zwei Schluck Bier sein offizielles Statement: «Falls du uns zitieren willst: Wir werden morgen alles dementieren.» Schallendes Gelächter.
Ich entspanne mich etwas. Das hier ist Leibstadt, nicht Fukushima. Die Arbeiter spassen nur. Ich öffne ein weiteres Bier, lache mit. Doch schon am nächsten Morgen sind die Zweifel zurück: Vielleicht ist es genau das, was mich stutzig macht: Vielleicht haben die Japaner ja auch Witze gerissen.
Auf dem Weg nach Gösgen passiere ich das Herz des Mittellands: Aarau. Es ist Mittagszeit, die Altstadtkaffees sind voll. Obwohl man den Kühlturm vom Kirchplatz aus gut sehen kann, scheint sich niemand dafür zu interessieren. Lieber geniesst man das süsse Leben: Die Aarauer essen ihre Spaghetti, trinken Espresso, springen in die Aare, spannen Kletterseile, glänzen in der Sonne. Nicht einmal die Touristen stören sich am AKW. Sie ärgern sich zwar, dass ihnen der Kühlturm das Panorama zerstört. Aber beim Stichwort Atom-Gefahr zucken sie nur mit den Schultern. In Spanien habe eine Pneufabrik gebrannt. «Das hat die Umwelt viel mehr verschmutzt.»
Dann endlich steht der dritte Meiler meiner Atomtour vor mir. Doch er wirkt noch harmloser als alle anderen. Der Kühlturm und die Rauchsäule streben gen Himmel, davor ein natürlicher Flusslauf, der Geruch von frischer Erde und das Ganze umrahmt von Sträuchern, Bäumen, Wurzeln. Wäre es kein AKW sondern ein gothischer Dom, man würde jetzt beten.
Einzig der Kühlturm stört das Klischee des ländlichen Idylls: Ein Weiler mit Obstbäumen, Weiden, Pferden, Holzbalkonen von denen Geranien hängen, Blumen, Burschen, die ihren Töff mit dem Gartenschlauch abspritzen und eine Busstation mit dem schönen Namen «Kraftwerk».
Unbehagen verspürt hier niemand ausser mir. Der Mann mit der Giesskanne, der direkt neben dem Atomkraftwerk wohnt, sagt zwar: «Man hat die Leute hintergangen.» Als das AKW gebaut worden sei, habe niemand gesagt, dass der Rückbau gefährlich sei und dass man nicht wisse, was man mit dem Abfall anstellen könne. Doch selbst dieser Kritiker hat sich mit dem Ding arrangiert. Das Risiko, vor seinem Haus von einem Raser überfahren zu werden, sei viel grösser als ein GAU. Was ihn wirklich stört, ist der Schatten, den der Dampf auf sein Grundstück wirft.
Zum AKW komme ich über einen Kiesweg. Die Empfangsdame zeigt mir den Weg zur Ausstellung und schenkt mir Kaffee ein. Die Betreiber haben sich alle Mühe gegeben, Zweifel zu verschieben. Mit Touchpads, plätschernden Wasserrädern, Leuchtfarben und Wischmenüs erklären sie mir jedes Detail der Stromerzeugung. Gleichzeitig lerne ich aber auch, dass die grüne Energie gar nicht so grün ist. Solarzellen etwa könnten die Felswände beim Walensee so verschandeln, dass man statt Granit nur noch Weltraumspiegel sehen würde. Und sie werden oft in China hergestellt – wo man doch weiss, wie die Umweltstandards der Chinesen sind.
Meine Angst vor dem unfassbaren Strahlen-Wahnsinn scheint plötzlich völlig unbegründet. Radioaktivität ist natürlich. Sie existiert überall. Fängt man sie unter dem Glasblock der Nebelkammer ein, sehen die Strahlen aus wie Sternschnuppen. Auch Uran ist weniger gefährlich, als man glaubt. Halte ich den Geigerzähler über die alte Uhr, kachelt das Gerät wie in einem alten James Bond-Film, beim Uran dagegen passiert fast nichts. Dann blicke ich das Bild mit dem Computertomografen an. Würde man Radioaktivität in der Medizin verwenden, wenn sie so gefährlich wäre?
Der nächste Raum ist ein Kinosaal. Auf dem Programm steht ein Kurzfilm von einer Jugendband: Fünf Teenager in Sneakers, hellblauen Jeans und Pludder-Shirts rocken im Keller. Doch plötzlich wird die Leinwand schwarz. Stille. Dann eine Stimme aus dem Dunkeln: «Das ist sicher wieder dein AKW, das abgelegen ist.» Motorengeräusche. Die Leinwand bewegt sich nach oben. Dahinter kommt ein Glas und ein AKW en miniature zum Vorschein. Reaktor, Maschinenhaus, Kühlturm und Leitungen, die blinken wie eine Leuchtreklame. Dazwischen die fünf Musiker, geschrumpft zum handzahmen Star-Wars-Hologramm.
Die Spielfreude vergeht mir schnell. Die Macher versuchten zwar, den Film mit Jugendsprache aufzulockern, das nützt aber nichts. Die Stromerzeugung bleibt eine technische Angelegenheit. Als ich den Raum verlasse, verheddern sich in meinem Kopf Wechsel- und Gleichstrom, Band- und Spitzenenergie und thermisches Kraftwerk und Biomasse. Ich sehe nur noch Bildschirme, Touchpanels, technische Zeichnungen, Flipperkästen.
Meine Geduld ist erschöpft. Ich haste durch die Endlagerungshöhle, vorbei an Fässern aus Stahl und einem Modell, tief im Untergrund und mit Frachtmaschinen ausgerüstet, als würde man hier unten Aliens vergraben. Dann ein Reaktorplan mit Knöpfen für jede erdenkliche Notsituation: Vom Stromausfall bis zum Leck. Ich drücke wahllos auf die Knöpfe. Lesen kann ich längst nicht mehr. Vor meinen Augen tanzen Christbäume, Knöpfe, Fachbegriffe und Schaltpläne.
Das ist doch Wahnsinn, fährt es mir durch den Kopf. Wie viele Hände arbeiten an diesem Monster mit? Ich denke an den Kontrollraum von Fukushima mit all seinen Lämpchen, Schaltern, Monitoren. So viele Schaltkreise, Ventile und Systeme, die überwacht werden müssen. Wie will man hier die Übersicht wahren? Wir Menschen haben hier etwas erschaffen, das kein Einzelner mehr begreifen kann.
Und je länger ich es betrachte, desto unbegreiflicher wird es. Ich hatte gehofft, dass dank dem Wissen die Angst schwindet. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich weiss jetzt zwar, dass die Menschen in Döttingen, Leibstadt oder Gösgen sich nicht vor der Nukleartechnologie fürchten. Mich selbst hat meine Reise aber nur unschlüssiger gemacht. Je mehr ich weiss, desto grösser wird das Fragezeichen in meinem Kopf. Und je mehr unbeantwortete Fragen da sind, desto grösser wird die Angst.
Muss ich mit ihr leben?
Ich denke zurück an eine Begegnung ganz am Anfang meiner Reise. Zehn Kilometer vom AKW Leibstadt und sieben Kilometer vom AKW Beznau entfernt. Die Morgenfrische war weg, die Sonne, die sich schon weit über dem Rhein erhoben hatte, kündigte an, dass es ein heisser Tag werden würde. An der Böschung stand ein robuster Mann in Wollpullover und ergrautem Pferdeschwanz. Er kreiste mit seinen Händen um einen imaginären Punkt. In Zeitlupe setzte er die Fussspitze auf den Boden, atmete ein und atmete aus.
Er lächelte. Auch dann noch, als ich ihm sagte, dass die Luft, die er hier einatmete, bei einem Atomunfall verseucht wäre. «Ich will mich nicht mit negativen Gedanken beschäftigen», sagte er und setzte seine Übung fort.
Als ich ihn fragte, ob er Tai-Chi mache, liess er doch noch von seiner Übung ab und begann zu erzählen. Früher sei er gegen alles gewesen. Gegen den Kapitalismus, gegen die Verschmutzung. Er sagte es ohne Wut, ganz gelassen. «Wenn ich mit 16 Jahren die Kontakte gehabt hätte, dann wäre ich wahrscheinlich mit Greenpeace aufs AKW gestiegen.»
Doch später habe er sich als Masseur selbstständig gemacht und angefangen, auf ökonomische Aspekte zu schauen. Fast unmerklich hob er die Augenbrauen. Die Leute bräuchten halt Strom und es gebe momentan keine bessere Lösung als Atomenergie. Man müsse die Dinge eben so nehmen, wie sie sind. Das AKW sei einfach ein Ding, das den Menschen Energie gebe und damit etwas Gutes. Erst wenn man es mit Strahlung assoziiere, werde es negativ.
Ein paar Wochen später lese ich in der Zeitung, dass das Parlament keine neuen AKWs mehr bauen will. Ein paar Sekunden lang starren meine Augen auf die Zeitungsseite, ohne den Bericht zu lesen. Dann blättere ich weiter. Und atme ein. Und atme aus.