Beten und Warten
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Warten und zuhören. Wie immer am Montagmorgen, wenn der Programmleiter und der Projektleiter in langsamem Deutsch das Programm der Woche vorstellen und dabei das Wort immer wieder abgeben an zwei freiwillige Übersetzer; das langsame, vorsichtige Deutsch wird plötzlich zu schnellem, bestimmtem Farsi oder Tigrinya.
Gibt es Fragen?
Das wird gefragt, als gesagt ist, dass sie daran denken sollten, Rucksack und Regenschutz mitzunehmen auf den Schulausflug, den man unternehmen würde, weil das Schuljahr ja bald zu Ende sei. Und einige der jugendlichen Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Syrien, Irak, Tibet oder Afghanistan, die nun hier sitzen und stehen und zuhören und warten mit ihren gemachten Frisuren und Augenringen vielleicht woanders zur Schule gehen werden.
Gibt es also Fragen?
Ja, es gibt eine.
Alle schauen rüber zu Schekeb, er ist noch keine 17, mit dem roten Schweiz-T-Shirt und den dunklen Augen voller Erwartung. Eben ist er wie jeden Morgen zwanzig Minuten zur Schule gelaufen; heute mit dem Schirm durch den strömenden Regen. Nun steht er im Türrahmen unter den Collagen seiner Schulkollegen mit den Bildern der glänzenden Autos und prunkvollen Gärten.
Seine Frage stellt er in Englisch: Es gebe in seiner Unterkunft noch weitere Jugendliche wie sie alle hier. Diese Jungs hätten den ganzen Tag nichts zu tun. Wäre es möglich, dass sie auch zur Schule kommen könnten, um etwas zu lernen?
Programm- und Projektleiter schauen einander an. Dann antwortet der eine: A difficult question. Das würden nicht sie, sondern der Kanton Aargau entscheiden. Sie könnten jedenfalls niemanden mehr aufnehmen.
No problem, denkt Schekeb. Noorajan würde einfach weiter warten müssen. No problem.
Ich fand Schekeb in dieser Schule, weil ich wissen wollte, wer die jungen Afghanen waren, welche letztes Jahr in die Schweiz strömten. Über 900 Kinder und Jugendliche sind alleine aus Afghanistan hierhergekommen – fast das Zwanzigfache der vorherigen Jahre. Weshalb kamen sie? Wo waren sie? Wie lebten sie? Ich begleitete Schekeb während mehrerer Wochen und erfuhr nicht nur seine Geschichte, sondern traf auch auf andere afghanische Jugendliche, die lebten, als wären sie vergessen gegangen.
Die Sache zwischen Schule und Kanton ist kompliziert, das liegt in der Natur dieses Schulprojekts, um das zwar alle froh sind, dessen Verantwortliche aber auch nichts dagegen hätten, würde es dereinst überflüssig. Sie müssten einfach hart bleiben, sagt Programmleiter Hansueli Ruch in der Bürokammer, wo er mit Projektleiter Werner Senn den ehrenamtlichen Betrieb organisiert. Aber hart zu bleiben ist manchmal schwierig. So haben sie einen Jungen aufgenommen, nachdem dieser zwei Wochen lang jeden Morgen vor der Tür stand. Alles lassen sie sich auch wieder nicht vorschreiben. Nicht unter diesen Umständen.
Im Herbst 2014 blickten zwei Westschweizer Journalisten der Reportagesendung „Temps présent“ über den Röstigraben und fanden im Aargau jugendliche Flüchtlinge untergebracht in Massenlagern mit Erwachsenen. Sie trugen weder Schuhe noch Jacken, schliefen besonders lang, um sich das Geld fürs Frühstück zu sparen und kochten jeden Tag bloss Teigwaren. Aufgerüttelt durch die Recherchen startete wenige Wochen nach Ausstrahlung nicht der Kanton, sondern der Verein Netzwerk Asyl in einem Jugendhaus ein Schulprojekt für unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Im Oktober 2015 zog man in grössere Räumlichkeiten gegenüber dem Konzertlokal Kiff. Das Budget fürs erste Jahr Schulbetrieb mit über 40 ehrenamtlichen Lehrpersonen von mehr als 300’000 Franken bestreitet man mit vorerst einmaligen Zuwendungen von Stiftungen und Privaten – der Kanton Aargau steuert um die 8000 Franken bei. Nun ist die Schule mit 40 Jugendlichen voll belegt.
Schekeb half seinem Vater auf den Feldern des Hofs in der Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans nahe der pakistanischen Grenze, doch eigentlich wollte er Finanzbuchhaltung studieren. Weil sein Vater fand, dass er tun sollte, was ihm Freude bereitete, schickte er ihn in die Provinzhauptstadt Dschalalabad, um das Englisch, das er aus den Filmen kannte, zu lernen. Doch in Nangarhar bekämpften sich bewaffnete Gruppen. Immer wieder verübten sie in Dschalalabad Anschläge und entführten besonders Jugendliche, um sie als Selbstmordattentäter, Bombenleger oder menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Schekeb hörte immer wieder von entführten Jugendlichen und sein Vater schien sich ernsthaft um ihn zu sorgen.
Ende September 2015, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte gerade die Grenze für geöffnet erklärt, stellte er Schekeb vor vollendete Tatsachen und fuhr ihn nach Dschalalabad. Er hatte um die 8000 Dollar bezahlt, um seinem ältesten Sohn eine Flucht in die Schweiz zu ermöglichen. Innerhalb von zwei harten Monaten schaffte dieser es geführt von immer neuen Schleppern über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Slowenien, Österreich und Deutschland in die Schweiz. Er habe Glück gehabt. Zwar habe er einige Male auf den langen Märschen das Bewusstsein oder seinen Schlepper verloren, doch irgendwie klappte es immer. Am härtesten sei der Fussmarsch durchs Rhodopengebirge an der türkisch-bulgarischen Grenze gewesen. Drei Tage und Nächte durch dichtesten Wald, ohne jemals den Himmel zu sehen. Im November beantragte er im Empfangszentrum Kreuzlingen alleine Asyl in der Schweiz.
Schekeb war erleichtert, als er nach über vier Monaten endlich zur Schule gehen durfte. Er hatte nichts zu tun gehabt, ausser den ganzen Tag an die Vergangenheit zu denken. Klar, es gab einen Deutschkurs. Doch dieser versprach Ablenkung von nur 90 Minuten an vier Tagen pro Woche und er merkte auch, dass er Deutsch schneller mit den Youtube-Clips lernte, welche ihm die Sprache in Farsi erklärten. Er glaubt, dass er endlich zur Schule gehen durfte, weil es ihm damals besonders schlecht ging und er gar die Hilfe einer Jugendpsychologin in Anspruch nahm.
Anfang Februar hatte er von einem afghanischen Freund plötzlich eine WhatsApp-Nachricht erhalten. Ein Bild des Gesichts eines alten Mannes mit kurzem, grauem Bart und geschlossenen Augen, in einen Schleier gehüllt. Auf der Stirn ein grosser weisser Punkt Watte, als gäbe es etwas zu überdecken. Es dauerte zwar noch ein paar Tage bis Schekebs Mutter das Bild bestätigte. Ja: sein Vater, der einige seiner Felder verkauft hatte, um Schekeb die Flucht zu bezahlen, war draussen vor seinem Haus erschossen worden. Das für Schekeb einzig mögliche Motiv: Der alte, wehrlose Mann hatte seinen Sohn in Sicherheit geschickt.
Als ich ihn an einem Junimorgen in der Schule treffe, macht er deutsche Wortschatzübungen. Haus, Kamin, Fenster, Zaun. Dank seines Eifers und des Englischen hat er in den vergangenen zwei Monaten viel gelernt. Von freiwilligen Lehrerinnen in der Schule erhält er zusätzlichen Matheunterricht, zweimal wöchentlich besucht er einen weiteren Deutschkurs. Sein Deutsch ist schon so gut, dass er hofft, wie einige andere UMA-Schüler nach den Sommerferien an die Kantonale Schule für Berufsbildung (KSB) überzutreten, welche ein Integrationsprogramm anbietet. Ein weiterer Schritt. Nach dem Tod seines Vaters hat seine Mutter mit den anderen Geschwistern den Hof verlassen und ist zu seiner älteren Schwester nach Dschalalabad gezogen. Schekeb ist nun der älteste Mann der Familie. Und die Familie braucht Geld.
Schekeb lebt von 70 Franken die Woche, die er immer mittwochs bei der Unterkunftsleiterin abholen kann. Als ich ihn an einem Mittwochmittag in der Schule besuche, erhält er Zusatzunterricht in Mathe, spiegelt geometrische Formen im Koordinatensystem und vergisst dabei, seine Jacke auszuziehen. Danach marschiert er in seinen Schuhen und seiner Jacke, die er von seiner Psychologin erhalten hat und mit seiner Tasche, die ihm ein Freund in der Unterkunft in Kreuzlingen geschenkt hat und in seiner Jeans, die er im Ausverkauf für zwanzig Franken gekauft hat, vorbei an Einfamilienhäusern mit Trampolinen, dann entlang der Hauptstrasse und den Autos der Vertreter, den SEATs und Audis, vorbei an Charlis Brocki, dem alten Zeughaus und dem Jugendtreff, vorbei an den Eritreern, die auch ihr Wochengeld erhalten haben und nun Einkaufstüten schleppen, zu Aldi im Gais-Zentrum gleich beim Bahnhof Aarau. Dort wartet Noorajan. Noorajan hat das Geld abgeholt, Schekeb hat den Plan und die Einkaufstüte.
Noorajan ist kleiner und zurückhaltender als Schekeb, doch wie dieser Paschtune mit demselben dichten, schwarzen Haar und demselben Leuchten in den Augen: mal matter Ausdruck von Melancholie, dann wieder von blitzender Zuversicht. Er ist 16 und nennt Schekeb seinen grossen Bruder. Wie Schekeb verliess auch er im vergangenen Herbst seine Heimat, weil seine Familie beschloss, dass er woanders sicherer sein würde als in seinem Dorf auf dem Land. Sie trafen sich in der Unterkunft, seit Januar teilen sie sich ein Zimmer. Noch für ein paar Wochen geht Noorajan in den Deutschkurs, viermal wöchentlich zwei Lektionen. Das Einkaufen geht schnell, Noorajan trägt den Einkaufskorb, Schekeb weiss, was rein muss. Sie kaufen Bananen und Orangen, Zucker, Öl, ein Kilo Thunfischfilets, Energy-Drinks, Pouletschenkel, jede Menge Dosen-Bohnen und eineinhalb Kilo passierte Tomaten, Nature-Joghurt, Milch und Eier. Besonders wichtig: drei Tiefkühl-Pizzas für 85 Rappen das Stück. Macht alles zusammen 33 Franken, 10 Rappen.
Danach tragen sie die Tasche zu zweit hoch zu ihrer Unterkunft, dem grauen Suhrer Wohnturm, der gegenüber des Aargauer Kantonsspitals umgeben von einem Betagtenheim, von Einfamilienhäusern und modernen Wohnblöcken einsam in den Himmel ragt wie ein toter Baum ohne Äste. Als Schekeb die Abkürzung übers Spitalgelände nehmen will, weist Noorajan ihn darauf hin, dass das ihnen doch verboten worden sei. Schekeb stöhnt, er verstehe das nicht und doch nehmen sie den Umweg und gehen wenig später zwischen den Stellzäunen, der baulichen Massnahme zur Beschwichtigung der besorgen Anwohner, hindurch und am Sicherheitsdienst vorbei. Das ehemalige Schwesternhaus wird seit 2013 teilweise als Asylunterkunft genutzt. Schekeb und Noorajan wohnen in einem kleinen Zweierzimmer zuoberst, im zwölften Stock. Die stickige Luft riecht süsslich, eine Mischung aus Schweiss und Deo und Waschmittel der Bettlaken. Die Fenster lassen sich hier oben kaum öffnen, doch das enge Zimmer ist ordentlich, sie haben ja nicht viel neben den paar Kleidungsstücken und dem Gebetsteppich. Schekeb mag es hier. Es herrsche Friede und gegenseitiger Respekt. Auch die Leitung behandle sie gut. Und erst die Aussicht. „Wir sehen über die ganze, schöne Schweiz.“ Schekeb zeigt durchs Fenster Richtung Brügglifeld, wo sie manchmal Fussballfans singen hören.
Noorajan macht Pizza, weil ich Schekebs Gast bin und Schekeb ihm gezeigt hat, wie man die Pizza macht. Nun pimpt er also die eben gekaufte Tiefkühl-Margherita mit passierten Tomaten, Thunfisch aus der Dose, einem Ei und Currypulver obendrauf. Er tut dies auf dem blossen, weissen Küchentisch ohne Unterlage, so dass danach Thunfisch, Tomaten, Ei und Pulver nicht nur auf der Pizza, sondern auch auf dem weissen Tisch und auf dem Boden landen und das Ganze wie eine gigantische Sauerei aussieht, auf die jeder 16-Jährige der Welt stolz sein dürfte. Dann schiebt er die Pizza ohne Unterlage aufs Gitter in den Ofen, wo sie saftet und tropft. Neben Schekebs „afghanischer Pizza“ kochen sie regelmässig auch Pasta, gebratenes Fleisch und gekochtes Gemüse. Manchmal beschwert sich Noorajan, dass Schekeb zu kleine Portionen macht. „Wenn ich koche, dann stille ich einen Teil meines Hungers schon nur mit dem Geruch der feinen Düfte“, erklärt dieser. Er vermisst vor allem den Reis seiner Mutter. Wie man Reis kocht, weiss er noch nicht. Auch Noorajan hat keine Ahnung, woher auch.
Als ich Schekeb eine Woche später wiederum in der Schule treffe, wirkt er müde. Nur drei Stunden hat er geschlafen. Der Fastenmonat Ramadan hat eben begonnen und er hat sich die ganze Nacht über an die strenge Abfolge von Gebeten und Mahlzeiten gehalten. Wir gehen zusammen zur türkischen Moschee, die er jeden Freitag besucht. Er fragt, ob ich mich für Fussball interessiere. Barcelona oder Real? Weder noch, erwidere ich ihm, aber ich würde mich auf die EM freuen. Schekeb weiss nicht, dass heute die Fussball-EM beginnt, er weiss nicht, dass das Turnier überhaupt existiert, liest keine Zeitungen. Er kennt auch die SVP nicht. Es gebe ernsthaft Leute in der Schweiz, die sich vor jungen Muslimen wie ihm fürchten? „Hast du etwa Angst vor mir?“ fragt er und lacht.
Im ersten Stock eines umgebauten Wohnhauses kniet er wenig später barfuss auf dem roten Teppich. Er blickt an Pfeilern vorbei gegen Osten auf den weissen Verputz oder die grünen Büsche, die durch die Vorhänge schimmern, eingereiht zwischen müden Männern mit schwerem Atem in Arbeitskleidung. Von draussen dröhnt ein Rasenmäher, hier hallt die Stimme des Imams über die Lautsprecher. Dieser spricht wie immer Türkisch und Schekeb versteht wie immer kein Wort. Aber er versteht die Zeremonie mit ihren fünf Gebeten, die er still vor sich hin spricht, mit angewinkelten Armen und offenen Händen. Als wir in der Nachmittagssonne zurück zur Unterkunft schlendern, frage ich, ob ihm der Glaube wichtig sei. Er versteht nicht. „Allah ist doch überall, in allen Dingen“, meint er mit ehrlichem Erstaunen über meine Frage. Allah, sein Schöpfer, hat ihn aus einem afghanischen Bergtal hierher aufs Trottoir im aargauischen Buchs geführt. Mit seiner Strebsamkeit und dem Willen, Deutsch zu lernen, zu arbeiten, sich hier in Sicherheit ein neues Leben aufzubauen, ehrt er seinen Herrn. Sein Schicksal liegt in Allahs Händen.
Ob ich Christ sei? Ja? Islam und Christentum sei doch dasselbe, sagt er, aber er habe gehört, dass es hier in der Schweiz Menschen gebe, die an nichts glaubten. „Strange“ findet er, merkwürdig.
Oben im zwölften Stock wartet Noorajan. Er war ebenfalls fürs Gebet in einer näheren, kleineren Moschee, hatte zuvor lange geschlafen und etwas aufgeräumt. Kein Deutschkurs, aber das Billardspiel 8 Ball Pool auf dem Samsung Smartphone. Er hat es sich vom Zusatzverdienst durchs Putzen der Unterkunft bei Interdiscount gekauft. Wenn er nicht auf Facebook ist, spielt er 8 Ball Pool gegen andere Spieler auf der ganzen Welt. Er kann das stundenlang tun, Schekeb ist darüber ganz erstaunt, immer wieder die Winkel der Kugeln analysieren, mit dem Finger das Queue aufziehen, päng! Häufig wenn Schekeb bereits schläft, leuchtet im Bett nebenan das Display und erhellt Noorajans Gesicht. Manchmal bis 2, 3 Uhr in der Nacht. Die Unterkunft verlässt er selten, hier hat er drahtloses Internet, hier sind seine afghanischen Kollegen, die wie er bis 10 oder 11 Uhr schlafen, auf den Sofas im Gang rumliegen und schauen, ob irgendwo was passiert. Da sind auch die Eritreer, sie wohnen nebenan, aber er müsste besser Deutsch können, um sie zu verstehen. So gibt es hin und wieder Streit wegen nichts, aber das Warten ist erträglich. Noch macht es ihm nichts aus, obschon das nun schon ein halbes Jahr so geht, denn er mag die Schweiz, er mag Schekeb, seinen grossen Bruder, mit dem er die paar Schuhe, T-Shirts, Hosen und Jacken – alles bis auf die Unterwäsche – teilt. So merkt er auch nicht immer, dass er es tut, aber doch: Er wartet darauf, dass irgendjemand kommen wird, wohl jemand aus der Unterkunftsleitung oder vielleicht seine Vertrauensperson beim Kanton. Jemand der sagt, dass sich etwas ändert. Dass er eine Ausbildung besuchen kann, am liebsten die UMA-Schule wie Schekeb.
Ob sie glaubten, dass sie in der Schweiz bleiben dürfen? Wieder aufrichtiges Erstaunen bei Schekeb. Was für eine Frage! Niemals hätten sie ihre Familien verlassen, hätten sie nicht gemusst. Wie Schekeb hat auch Noorajan nur jüngere Geschwister, wie bei Schekeb hat auch bei Noorajan die Familie für ihn entschieden; bleiben war zu gefährlich. Er kam mit seinem Cousin auch im Herbst, aber nicht wie Schekeb über Bulgarien, sondern übers Mittelmeer, über Griechenland. Sie sitzen nun nebeneinander auf Schekebs weissem Bett, Schekeb mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Noorajan auf dem Rand, nach vorne gebückt. „Es ist besser, sich in Europa das Leben zu nehmen, als in Afghanistan zu sterben“, sagt Noorajan auf Paschtu und Schekeb übersetzt in einer Mischung aus Englisch und Deutsch. Dann sagt Schekeb: „Würde ich abgewiesen werden, mir würde es das Herz brechen.“ Er sagt es zögerlich und saugt immer wieder an seiner Oberlippe, denn eigentlich denkt er gar nicht daran. Es kann ja gar nicht sein.
Noorajan hält sein Smartphone in der einen Hand und fährt sich mit der anderen verlegen übers Haar. Dann zeigt er Schekeb ein Video auf Youtube. Ein kleiner Junge. Er fleht seine Eltern mit geschlossenen Augen an, endlich das Geld zu bezahlen, die Männer würden ihn schlagen. „Schau dir diesen Jungen an, unschuldig wie eine Blume“, sagt Noorajan und sagt es immer wieder leise, streicht sich dabei über den Hinterkopf, kratzt sich verlegen hinter den Ohren. Blankes Unverständnis. Das können keine Muslime sein, sagt Schekeb. Ein Junge, unschuldig wie eine Blume. Einfach so umgebracht und in den Strassengraben geworfen wegen Geld. Abasin Shaheed hiess er. Noorajan hatte manchmal mit ihm gespielt in seinem Dorf, doch nun ist er tot, ermordet von seinen Entführern, bewaffneten Männern, vielleicht Taliban, vielleicht IS, wer weiss. Ermordet, weil seine Eltern das geforderte Lösegeld von 100’000 Dollar nicht bezahlen konnten. Schekeb hört diese Geschichte zum ersten Mal, sie sprechen nicht viel über die Heimat zusammen, das macht nur traurig und doch ist es dieselbe sinnlose Geschichte, die er bereits kennt: Männer, die Kinder töten. Was beide nicht verstehen: Weshalb geschieht dies dort, wo sie mit ihren Familien lebten? Weshalb wird dort gemordet und hier herrscht Friede? Weshalb ist das in Afghanistan nicht möglich? Durch das Unverständnis in ihren Gesichtern scheint nun ihre Jugend. Sie können die Welt der Erwachsenen nicht akzeptieren, sie ist zu grausam. Doch gleichzeitig wirken sie, gebückt und ohne Spannung in den Gliedern, in diesem Moment auch unfassbar alt, müde vom Leben und ohne Ahnung, was es ihnen noch bieten könnte.
An einem Freitag Mitte Juni geht das erste Schuljahr zu Ende. Während Noorajan nach der langen Nacht mit Mahlzeiten und Gebeten noch schläft, schaut Schekeb zu, wie Programm- und Projektleiter Kolleginnen und Kollegen verabschieden. Sie haben positive Asylentscheide erhalten und können deshalb an die Kantonale Schule für Berufsbildung, welche ein Integrationsprogramm führt. Endlich der nächste Schritt. Es gibt Tränen und Umarmungen. Schekeb freut sich für sie, aber wie er nicht versteht, weshalb Noorajan nicht hier sein kann, hat er Mühe zu verstehen, weshalb die Kollegen weiterkönnen und er warten muss. Er hat sich Bartstoppeln wachsen lassen, noch immer ist Ramadan, noch immer schläft er zu wenig, bevor er zur Schule geht, noch immer fastet er, um seinen Herrn, der bestimmt einen Plan für ihn hat, zu ehren. Doch noch lässt der Asylentscheid auf sich warten. Viel Zeit bleibt nicht mehr.
Das gilt auch für die Verantwortlichen des Vereins Netzwerk Asyl um Präsidentin Patrizia Bertschi. Sie haben die Grüne Fraktion des Aargauer Kantonsrats und das Fernsehen eingeladen, um zu zeigen, wofür der Kanton nicht bezahlen will und dass diese Schule hier einfach nicht reicht. Noch immer gibt es mehr jugendliche Asylsuchende im Aargau, die keine Schule besuchen können, als die knapp 40 Jugendlichen, die jetzt hier sind und lesen und schreiben und rechnen. Mitte Juli 2016 leben im Kanton Aargau über 160 asylsuchende Jugendliche zwischen 16 und 18. Bertschi spricht in die Kamera, dass es gemäss Verfassung und der von der Schweiz ratifizierten UNO-Kinderschutzkonvention Pflicht des Kantons sei, jugendlichen Asylsuchenden eine Struktur und Perspektiven zu bieten. Sie tut es mit fast fatalistischem Schulterzucken, denn sie weiss, dass das kein Geheimnis ist: Der Kanton Aargau macht zu wenig. Das wissen alle, auch die zuständige Regierungsrätin Susanne Hochuli der Grünen, die das später auch in die Kamera sagt. Obschon der Kanton mittlerweile allen minderjährigen Asylsuchenden immerhin eine altersgerechte Unterkunft bieten kann. Obschon neue Stellen für Sozialarbeiter in den Unterkünften geschaffen wurden. Es müsste mehr getan werden.
Das sagt auch die Allianz für die Rechte der Migrantenkinder (ADEM). Das Netzwerk von Schweizer NGOs, welches Druck auf die Politiker ausübt, so dass die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren eben Empfehlungen für den Umgang mit minderjährigen Asylsuchenden abgegeben hat. Obwohl viele Kantone wie der Aargau diese Mindeststandards bei der Unterbringung der Jugendlichen mittlerweile einhalten können, bleiben es betrefffend der Ausbildung vorerst Empfehlungen. Denn nicht nur die Sozialdirektoren entscheiden, sondern die gesamten Kantonsregierungen haben das letzte Wort und viele von ihnen wollen weniger Geld ausgeben. Sie nennen es Sparen, doch legen damit keine Reserven an, wenn Asylsuchende wegen schlechter Integration langfristig von der Sozialhilfe abhängig werden.
Im Aargau heisst es auf Anfrage immerhin, Projekte im Bereich der Schul- und Berufsbildung seien geplant. Zudem will man den Zugang zum Integrationsprogramm der KSB vereinfachen. Doch noch sind dies erst professionell kommunizierte Absichten. Deshalb wollen Patrizia Bertschi und der Verein Netzwerk Asyl den Betrieb ihrer Schule bis Juni 2018 weiterführen und suchen wieder das Geld bei Stiftungen, bei Privaten und nun gar beim kantonalen Lotteriefonds. Im Erfolgsfall würde man mit weiterhin höchstens 40 Schülern weitermachen können. Immerhin. Doch Bertschi sorgt sich um diejenigen, welche nicht zur Schule werden gehen können. Solange es keine einheitliche Betreuung für alle gibt, haben es gerade diejenigen, welche beispielsweise als Analphabeten dringend Unterricht benötigten, welche nicht wie Schekeb bereits Englisch sprechen oder von einer Pflegefamilie betreut werden, besonders schwer. „Es ist kaum auszuhalten“, sagt Bertschi.
Der Fastenmonat Ramadan endet an einem Mittwoch Anfang Juli. Zur Feier des Fastenbrechens, Id al-Fitr, fährt Schekeb mit dem Zug nach Zürich. Vom Putzgeld hat er sich ein Halbtax und ein Gleis 7-Abo gekauft. Er kennt den Fahrplan auswendig, war eben auch am Züri-Fest-Wochenende zweimal hier. Nicht nur, weil er hier Freunde treffen kann, die anderswo in der Schweiz untergebracht sind. Aarau ist schön mit seiner Altstadt und der Aare, aber Zürich ist die Stadt der Träume.
Auch heute, an diesem lauen Sommerabend, an dem die Menschen vor den Cafés und Bars sitzen, Portugal gegen Wales Fussball spielt und die Limmat und der See glänzen, dass man einfach geniessen muss, dass man jung und frei ist. Obschon doch Id al-Fitr wäre und die afghanische Moschee ganz in der Nähe des Bahnhofs. Aus Chur kommen – auch mit dem Gleis 7 – Sohrab und Hekmatullah, der während dem Ramadan eben jeden Abend nach Zürich in die Moschee gefahren war. Hinfahrt ab Chur 19:09, Rückfahrt ab Zürich 23:12. Sie lernten sich alle im Empfangszentrum Kreuzlingen kennen. Sie sind alle etwa gleich alte Paschtunen. Schekeb trifft die beiden unter der grossen Uhr, umarmt sie, hält ihre Hände. Noorajan hat den Zug verpasst, man muss kurz warten. Oder doch nicht? Noorajan zu erreichen ist schwierig. Schekeb hat kein Datenabo und Noorajan hat kein Datenabo, nur Sohrab kann helfen, er hat ein wenig Geld auf dem Telefon. Sie gehen trotzdem los mit einem Lachen im Gesicht. Die Schweiz ist schön, Zürich ist schön, die Mädchen sind schön. Die drei gehen aus der Bahnhofshalle raus, der Limmat entlang und haben Fragen. Wie ist Tramfahren? Das Gleis 7 ist im Tram nicht gültig. Dürften sie trotz fehlender Aufenthaltsbewilligung eine Fahrt mit dem Limmatschiff unternehmen? Werden sie es schaffen, irgendwann mal einen C-Ausweis zu erhalten?
So Allah will, Inschallah, sagt Schekeb.
Sie gehen weiter durch die friedlich flanierenden Menschen zum Bellevue, dann der Seepromenade entlang. Musik dröhnt aus Lautsprechern, Strassenkünstler spielen, junge Pärchen küssen sich. Als Sohrab ein Mädchen sieht, welches seinen Kopf in den Schoss eines jungen Mannes gelegt hat, der nun über ihre Stirn streicht, sagt ihm Schekeb: „Das wäre auch für dich möglich, wenn du Deutsch lernst“ und Sohrab lächelt unsicher. Deutsch lernen. Hekmatullah spricht etwas besser als Sohrab, aber lange nicht so gut wie Schekeb, obschon sie alle etwa gleich lang hier sind, über ein halbes Jahr. Für die beiden Churer Asylsuchenden ist der dreimonatige Deutschkurs vorüber, gerne würden sie arbeiten, Sohrab kann Velos reparieren. Doch noch haben sie keine Perspektiven. Sie haben die Spiele in der Unterkunft, die Freundschaften, die Fahrten nach Zürich in die Moschee oder an den See.
Kurz vor dem Seebad Utoquai bleiben sie stehen, stellen ihre Taschen ab und diskutieren Zukunftspläne. In fünf Jahren würden sie hoffentlich fliessend Deutsch sprechen und arbeiten. In fünf Jahren. Plötzlich ein Ausruf. He! Oh! Schekeb sprintet einem Passanten nach. Unsere Taschen! Der Mann stellt sich betrunken, geht wankend weiter und lässt sich von Schekeb den Rucksack und die Tasche wieder abnehmen. Schekeb blickt ihm lange nach, kommt zurück und raunt fassungslos: Nicht mal in Zürich ist man sicher. Nun lachen alle wieder.
Die Wolken haben die untergehende Sonne überdeckt, es ist langsam dunkel geworden. Sie müssen zurück, um pünktlich in der Unterkunft zu sein. Beinahe sind sie wieder beim Bellevue angelangt, als drei Jungs mit einer afghanischen Flagge dazustossen: Noorajan mit zwei Aarauer Freunden aus dem zwölften Stock. So stolpern nun sechs afghanische Teenager mit Gleis 7 zurück Richtung Bahnhof, machen Selfies, schwenken die Fahne und necken einander. Alle warten sie auch nach über einem halben Jahr in der Schweiz auf das Gespräch in Bern, auf ihren Asylentscheid. Ausser Schekeb würde keiner von ihnen in den nächsten Tagen einen Deutschkurs besuchen. Die UMA-Schule beginnt wieder, für die KSB fehlt ihm immer noch die Bewilligung, der Asylentscheid. Jemand hat ihm von der Fachmittelschule erzählt. Vielleicht klappt’s dort? Das Warten dauert für alle an bis irgendwann. Bis die schöne Schweiz ihnen einen Plan vorlegt. Vielleicht fünf Jahre? In fünf Jahren werden sie, inschallah, fliessend Deutsch sprechen, Mädchen treffen, arbeiten, Tram und Schiff fahren und leben als gebe es ein Morgen, das näher liegt als fünf Jahre entfernt.