Der Kollaps
von
Dominik, Alain und Sophie sind Pseudonyme. Die Bilder entstanden unabhängig von der Recherche zur Geschichte.
Kurz vor Schichtwechsel, ersoffen unter Akten, fliessen Dominik plötzlich Tränen über die Wangen. Er kneift die Lider zusammen. Die Zahlen, Buchstaben verwischen unter dem Wasserfilm, der sich wie Milchglas über die Augen legt. Er klickt, klickt, klickt, tippt irgendetwas. Macht weiter. Er denkt nicht, fühlt nichts. Seine Finger werden steif, verkrampfen sich um die Computermaus und eine beklemmende Schwere umarmt seinen Brustkorb. Seit Wochen trifft er keine Freunde mehr, seine Fernbeziehung führt er über Telefonleitungen. Er vergisst, wann er seine Eltern zum letzten Mal gesehen hat. Die Tränen fallen auf das Patientendossier. Dominik, der von sich behauptet, er sei Rationalist, mit Bestnoten Arzt geworden, weint. Und kann nicht mehr aufhören.
Zeit ist Medizin, denkt sich Dominik. Das Krankenhaus kennt keine Sonn- und Feiertage, Nächte und Tage. Ohne seine Familie hätte er vergessen, dass er am selben Wochenende Geburtstag hat. Er nimmt Urlaub, fährt für ein paar Tage ins Tessin. Er wird 26.
Dominik sieht den Zusammenbruch als Auftakt zu einem Neubeginn. Der doch keiner wird. Am Mittwoch erscheint er wieder zum Rapport. Er ist Pragmatiker, hat die Chirurgen-Attitüde verinnerlicht: «Wir sehen ein Problem, wir lösen das Problem.» Natürlich kennt er seine Diagnose, und er behandelt sich gleich selbst: Mit dem Beinahe-Kollaps in den Knochen geht er jeden Tag schwimmen, trifft Freunde, gönnt sich Auszeiten. Langsam erholt sich die Psyche, die Probleme bleiben. Er ist chronisch übermüdet. Die Schläfrigkeit keilt die Konzentration, umwölkt die Besinnung. Dominik nickt während Sprechstunden ein, verbringt Kompensationswochen nur noch im Bett. Nach einer intensiven Schicht fährt er mit dem Auto zu seiner Freundin, fällt in einen Sekundenschlaf, schrammt die Leitplanke und entgeht nur knapp der Blechkatastrophe.
Im September empfängt Dominik das Schreiben mit der Vertragsverlängerung. Man freue sich, ihm mitzuteilen, dass er weitere sechs Monate als Assistent bleiben dürfe. Das ist seltsam. Üblich wäre eine Verlängerung um ein Jahr. Alle seine Kollegen und Kolleginnen haben die gängige Frist bekommen. Auf Nachfrage beim Chefarzt heisst es, er arbeite ausgezeichnet. Aber wegen der Beurlaubung im Sommer habe man sich im Kader für eine kürzere Frist entschieden. Er müsse sich anstrengen, er wolle schliesslich Chirurg werden. Freunde raten ihm, die Stelle zu wechseln. Gute Assistenten sind begehrt, der Markt ausgetrocknet. Aber Dominik weiss: Wer hier frühzeitig aussteigt, ist gebrandmarkt — die grosse Karriere vorbei.
Spitäler sind Bastionen der Hierarchie. Während in anderen Lebensbereichen die Pyramiden erodieren, der Umgang informeller wird, schwören die Krankenhäuser auf die alte Hackordnung: Chefarzt, Leitende und Oberärzte, am Schluss wirken die Assistierenden als Bindeglieder zwischen Pflege, Patienten und Fachärzten. In den meisten Spitälern herrscht ein ungeschriebenes Gesetz, das vorgibt, wen man zu siezen hat, wer mit Titel angesprochen wird. Die Weiterbildungsverantwortung hat der Chefarzt. Er befindet am Ende eines Jahres über die Leistung eines Assistenten. Erachtet er diese als unzulänglich, ist das Jahr verloren.
«Die Assistenzärzte sind auf Gedeih und Verderb den hierarchischen Strukturen ausgeliefert.» Das sagt Nico van der Heiden, Leiter Politik des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte (VSAO). Wer Arbeitsbedingungen beanstandet, stellt sich in die Schusslinie. «Landet dein Name auf der Schwarzen Listen, ist das dein Karrieretod. Die Schweizer Szene ist klein, man trifft sich an Konferenzen und schätzt sich. Unter den leitenden Chirurgen kennen sich alle», sagt van der Heiden und fügt an: «Es gab junge Ärztinnen und Ärzte, die nach dem Gang an die Öffentlichkeit massiven Repressionen ausgesetzt waren — zum Beispiel dem Druck, ihre Stelle zu wechseln.» Darum erzählen zwar die meisten der über 20 für diese Recherche angefragten Assistenzärzte ähnliche Geschichten von Überlastung. Doch entweder wollen sie keinesfalls, dass diese an die Öffentlichkeit kommt, oder beharren wie die in dieser Geschichte zitierten Dominik, Alain oder Sophie auf dem Schutz eines Pseudonyms.
Dass Ärzte unter Druck und hohen Belastungen arbeiten ist ein Allgemeinplatz. Die Zahlen überraschen dennoch: Eine Studie aus dem Jahr 2010 der Universität Genf kommt zum Schluss: Vier von zehn Ärzten sind ausgebrannt. Als «Burnout» gilt ein emotionaler, geistiger und körperlicher Erschöpfungszustand nach monate- oder jahrelanger Überarbeitung. Junge Assistenzärzte sind besonders hohen Belastungen ausgesetzt: Frisch von der Universität, übernehmen sie ohne praktische Erfahrung Verantwortung für Menschenleben. Die Assistenzzeit dauert nach dem Erhalt des Arztdiploms theoretisch 3 bis 6 Jahre, faktisch 6 bis 7 Jahre und wird mit einem Facharzttitel belohnt.
Die Arbeit ist hart: Jungärzte arbeiten in Ausnahmefällen bis zu 80 Stunden pro Woche, sieben Tage am Stück. Van der Heiden vom VSAO meint, dass Fälle wie der von Dominik die absolute Spitze des Eisberges darstellten und charakteristisch seien für die Chirurgie. Bereitschaftsdienste sind zeitintensiv, schwer planbar und vielschichtig. Obschon viele Krankenhäuser die Vorschriften mittlerweile einhielten, seien jährliche Überstunden im dreistelligen Bereich immer noch die Regel.
Eigentlich verbesserte sich die Situation für die Assistierenden 2005. Damals wurde das Arbeitsgesetz überarbeitet, welches die Ruhezeiten regelt und die Höchstarbeitszeit für Assistenzärzte bei 50 Stunden pro Woche festsetzt. Eine Verbesserung — wenn auch vor allem auf dem Papier. Die Spitäler haben grosse Mühe, den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden: Eine repräsentative Umfrage des VSAO, der 1800 Assistenten anonym befragte, hat ergeben, dass ein Assistent zehn Jahre nach der Neuregelung im Durchschnitt immer noch 56 Stunden pro Woche arbeitet — also sechs Stunden zu viel, Woche für Woche. Was die über 20 Gespräche mit jungen Ärztinnen und Ärzten weiter zeigten: Aus Angst vor möglichen Klagen werden Assistenten vielerorts dazu angehalten, ihre Überstunden tief zu halten. In einigen Kliniken ist es opportun, ausgestempelt weiterzuarbeiten. Mancherorts werden Überstunden in der Endabrechnung «optimiert». Assistenten berichten gar von weggestrichener, unbezahlter Überzeit.
Nicht für alle jungen Ärzte ist der Druck — die langen, unregelmässigen Arbeitszeiten — ein Problem. So wie zum Beispiel für Alain, wie Dominik Chirurgie-Assistenzart. Er arbeitet oft über 80 Stunden die Woche, einmal war er sogar 24 Tage am Stück im Dienst. Das Gesetz schreit: «Illegal!» Aber Alain beklagt sich nicht: «Part of the job. Ich gehe nach Hause, wenn die Arbeit fertig ist.»
Alain ist 27 Jahre alt und arbeitet in einer Privatklinik. Er ist kleingewachsen und gemächlich, hat gepflegte Fingernägel und einen akkuraten Haarschnitt. Er trinkt mit der ruhigen Hand des Chirurgen ein Feierabendbier. Ehemalige Studienkollegen sagen über Alain, dass sie sich bei ihm ohne zu zögern unters Messer legen würden. Eine Bekundung unter Medizinern, die der Verleihung eines Vertrauensordens gleichkommt. Dabei war Alain kein guter Student, hat den Numerus Clausus erst im zweiten Anlauf bestanden, ist durch Prüfungen gefallen und musste ein Jahr wiederholen. Im neunten Semester dachte er ans Aufhören. Hätten ihn seine Eltern nicht daran gehindert, wäre er heute Taxifahrer, behauptet er. Erst mit dem Skalpell in der Hand und dem Kittel über der Schulter schlug die Freude ein: In den Anfangsmonaten bestand er über 100 Eingriffe als Operateur, schnitt Blinddärme, operierte Gallenblasen, flickte Bauchwände.
Der direkte, militärische Ton im Operationsaal, die klaren Strukturen des Spitals, die sich wie eine Zwangsjacke um das Leben schnüren und fortan dessen Verlauf bestimmen, geben Alain Halt: «Ich bin ein guter Soldat.» Alain ist überzeugt, dass der Wunsch nach weniger Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen zu Qualitätsmängeln führen wird: «Früher gehörte in der Chirurgie die 100-Stunden-Woche dazu. Meine Vorgänger hatten grössere Operationskataloge zu erfüllen und waren vergleichsweise die besseren Ärzte. Erfahrung ist in diesem Beruf alles. Das Arbeitsgesetz schränkt die Weiterbildung enorm ein, die meisten meiner Kollegen an anderen Spitälern, die sich halbwegs an das Gesetz halten, können viel seltener operieren. Als Patient würde ich mich lieber heute von den altgedienten Chirurgen, als in 15 Jahren von meinen Kolleginnen und Kollegen operieren lassen.»
Wie die hohe Belastung junger Ärzte nicht neu ist, ist auch nicht erstaunlich, dass manche besser damit klarkommen als andere. Neu hingegen ist: Heute sind 62 Prozent aller Medizinabsolventen weiblich, Tendenz steigend.
Sophie ist seit zwei Jahren Assistenzärztin. Ihr WhatsApp-Profilbild zeigt eine Lego-Ärztin mit Stethoskop und weissem Kittel. In Realität trägt sie eine schwarze Hipsterbrille, hat die Haare mit einem roten Stirnband zusammengebunden, wippt auf und ab, um ihre zweimonatige Tochter im Tragetuch zu beruhigen.
Als Sophie vor einem Jahr, am Abend, bevor sie ihre neue Stelle an einem renommierten Kinderspital antrat, erfuhr, dass sie unverhofft schwanger war, dachte sie unmittelbar danach an die Arbeit. Assistenzzeit und Kinder vertragen sich nicht. Persönliche Auszeiten sind in der Karriereplanung einer Ärztin nicht vorgesehen. Sie fühlte sich schuldig: Eine frisch angestellte Assistentin, die schwanger beginnt, sei der Horror für jedes Krankenhaus. Sophie gewöhnte sich mit Mühe an die fragenden Gesichter, die besorgten Blicke, wenn sie erzählte, dass sie nach der Geburt wieder voll einsteigen möchte. Eine Ärztekollegin sagte, das könne sie doch nicht machen — das arme Kind.
Es sind aber nicht nur die Frauen, die sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wünschen. Auch Alain, der Assistent, dem 80-Stunden-Wochen angeblich nichts ausmachen, will mehr Freiheit. Nach seiner Zeit als Assistenzarzt plant er sich zu spezialisieren und in die Urologie zu wechseln. Gut bezahlt, viel Prestige und Aussicht auf mehr Flexibilität. Ausgerechnet er, der sich im hierarchischen, auf Leistung ausgerichteten System so wohl fühlt, will wegen Familienplanung umsteigen? «Ich arbeite sehr gerne. Ich möchte aber flexibel auf die Anforderungen des Lebens reagieren, die Chirurgie ist dafür nicht geeignet. Auch ich will einmal Kinder, und die möchte ich nicht nur schlafend sehen.»
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gilt als eines der fundamentalen Anliegen der sogenannten Generation Y. Ihr Problem sind nicht mehr die Grenzen, es ist die Grenzenlosigkeit: Nichts ist unmöglich. Aufgewachsen mit den Weiten des Internets, liberalen Bildungssystemen und in ökonomischer Prosperität eröffnen sich neue Chancen und alternative Lebensentwürfe. Jobwechsel sind keine Ausnahme, Beruf und Familie müssen trotz Karriere vereinbar sein.
Auch für VSAO-Sprecher Nico van der Heiden ist klar, dass Teilzeitangebote nicht nur ein Frauenwunsch sind. «Männer wollen heute ebenfalls an der Kindererziehung teilhaben.» Das staatliche Betreuungssystem würde bei 56-Stunden-Wochen mit schwer planbarem Schichtbetrieb und Wochenendarbeit bei weitem nicht ausreichen. Es bräuchte mehr Teilzeitstellen. «Wenn die Spitäler an ihren alten Modellen festhalten, werden ihnen bald die Ärzte ausgehen. Dieses Problem können auch die besten Vollzeitärzte nicht beheben.»
Tatsächlich steigen viele für teures Geld ausgebildete Mediziner ganz aus dem Beruf aus — vor allem Frauen. Das Bundesamt für Gesundheit hat errechnet, dass jede fünfte Ärztin zehn Jahre nach dem Abschluss nicht mehr praktiziert. Alternativen finden sich beispielsweise in der Pharmabranche. «Diese bietet Nine-to-Five-Teilzeitstellen zu lukrativen Konditionen an», so van der Heiden.
Einen Exodus an jungen Ärzten kann sich das Gesundheitswesen bei Kosten von mehreren 100’000 Franken pro Studium und dem frappanten Ärztemangel eigentlich nicht leisten. Politik und Gesundheitswesen spähen bekümmert in die Zukunft: Die Lebenserwartung steigt, die Schweiz wächst, die Hälfte aller Hausärzte wird in den nächsten zehn Jahren pensioniert und die 24/7-Gesellschaft bringt die Notfallstationen an ihre Belastungsgrenzen.
Deshalb braucht es mehr Personal. Heute kommt jeder dritte Arzt aus dem Ausland. Hauptsächlich Deutsche wurden in den letzten Jahren mit höheren Schweizer Salären angelockt. Doch Deutschland hat unlängst eine Arbeitszeitbeschränkung eingeführt, die Löhne angehoben und das Schweizer Stimmvolk leistete mit seiner restriktiven Ausländerpolitik unfreiwillige Schützenhilfe. Seither stagniert der Zulauf deutscher Fachkräfte und es werden vermehrt osteuropäische Mediziner eingestellt. Das ist jedoch keine nachhaltige Lösung: Mit ihrem Umzug exportieren die Ärzte aus Ländern wie Rumänien, Bulgarien und Tschechien den Mangel in ihre dramatisch unterversorgten Heimatländer. Die Politik will das Problem mit Geld lösen: Kürzlich hat der Bund beschlossen, weitere 100 Millionen Franken in die Ärzte-Ausbildung einzuschiessen, mit dem Ziel, Masterabschlüsse in der Humanmedizin bis 2025 um rund 45 Prozent anzuheben.
«Der Geist der Medizin ist im Wandel. Im Vergleich zu früher steht heute bei vielen jungen Schweizer Ärzten die Work-Life-Balance im Vordergrund. Eine Untersuchung unseres Spitals hat ergeben, dass dies der Hauptwunsch unserer Assistenten sei. Das merkt man. Meine besten Oberärzte sind mittlerweile Deutsche, Türken, Italiener.» Für Professor Thomas Lüscher, Klinikleiter der prestigeträchtigen Kardiologie-Abteilung des Universitätspitals sind die Assistenten Kinder des Schweizer Wohlstandes: Leben vor Karriere. Das sei nicht vereinbar mit einer erfolgreichen medizinischen Laufbahn, erst recht nicht mit einer akademischen. Lüscher erachtet die Entwicklung in den letzten paar Jahren als beunruhigend.
Thomas Lüscher gilt europaweit als einer der besten Herzspezialisten. Er ist Autor von über 500 wissenschaftlichen Publikationen und kulturellen, politischen Essays, Chefredaktor von zwei namhaften Fachzeitschriften, lehrt an der Universität, sammelt Awards im Jahrestakt und wird hundertfach zitiert. Wer in seiner Klinik arbeitet, spielt in der Top-Liga. Lüscher trägt die Strahlenschutzbrille wie ein Collier um den Hals, unter dem langen Kittel stecken seine Füsse in Crocs, der Pieper blinkt am Gürtel. In seinem grosszügigen Büro hängt ein Abzug einer amerikanischen Grossstadt und seitlich davon ein Bild des spanischen Malers Joan Miró, der einst sagte: «Ich arbeite, ohne zu arbeiten.» Ganz Doktor Lüscher. Er ist die Klinik, die Klinik ist Lüscher. Ohne seine 80 Stunden pro Woche laufe nichts. Seine Mission ist es, die Schweizer Spitzenmedizin zu erhalten.
Lüscher fordert von jungen Ärztinnen und Ärzten mehr: «Die Generation Me hält weniger aus. Die jungen Medizinerinnen und Mediziner sind genügsamer, öfters krank, weniger leistungsbereit. Burn-Outs hat es früher nicht gegeben, obwohl man mehr gearbeitet hat.» Medizin erfordere Leistung: «Wer etwas erreichen will, muss sich einsetzen. Die ersten zehn Jahre nach dem Studium sind entscheidend.» Darum ist ihm das Arbeitsgesetz ein Dorn im Auge, es sei kontraproduktiv und qualitätshemmend: «In Harvard gilt immer noch die 80-Stunden-Regelung. Das ist sicher zu viel. Doch muss es einen Mittelweg geben, mehr Flexibilität. Wir sind keine Konservenfabrik. Wir können Patienten nicht einfach liegen lassen und nach Hause gehen.» Angesprochen auf die Patientensicherheit meint er, dass Ärzte die viel arbeiten, keine Gefahr seien, weil sie mehr Erfahrung haben: «Amerikaner haben 40’000 Patienten, die von 1448 Chirurgen operiert wurden, untersucht und den Outcome von zwei Patientengruppen verglichen: Die einen waren von Chirurgen operiert worden, die in der Nacht zuvor einen Eingriff durchgeführt hatten, die anderen von solchen, die sich im nächtlichen Schlaf erholen konnten. Das Ergebnis: Die Mortalität der operierten Patienten war in beiden Gruppen gleich.»
Auch von Teilzeitangeboten in der Weiterbildung ist Lüscher kein Fan: «Ich verstehe nicht, warum eine Frau während der Assistenzzeit, in der es darum geht, sich Wissen und Können anzueignen, ein Kind kriegen möchte. Man kann heute die Familie planen.» Eine Frau, die schwanger wird, könne sich nicht mehr voll und ganz auf die Weiterbildung konzentrieren. Das sei gefährlich: «In der heutigen komplexen Medizin ist voller Fokus auf sein Fachgebiet und tägliche Praxis unabdingbar. Ich möchte nicht zu einer Chirurgin gehen, die nur zweimal pro Woche operiert.» Mit Blick auf die Zukunft sieht Lüscher die Lösung unter anderem im Ausbau des Betreuungsangebots. «Ich habe lange in den USA gearbeitet. Da arbeiten die meisten Mütter im Gesundheitswesen Vollzeit. Das geht aber nur, wenn der Schweizer Krippenmarkt geöffnet wird. Wir brauchen dringend mehr und bessere Betreuungsstätten.» Für ihn ist es am Ende eine Frage der Qualität: «Die Schweiz kann mit Teilzeitstellen ihr medizinisches Niveau im internationalen Vergleich nicht erhalten.»
Auch Thierry Carrel, Direktor der Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie am Inselspital Bern, betrachtet die Entwicklung kritisch: «Die Einführung des Arbeitszeitgesetzes führte zu einem abrupten Paradigmenwechsel: Die Bezeichnung Berufung ist in der Medizin fast schon zum Schimpfwort verkommen. Wer bereit ist überdurchschnittlich zu leisten, wird kriminalisiert. Ich muss regelmässig junge Ärztinnen und Ärzte, die bereit wären, sich ausserordentlich zu engagieren, wegen drohender Überstunden nach Hause schicken. Das führt zu einer Orientierung am Minimum. In der Herzchirurgie ist das inakzeptabel.»
Es gelte dasselbe wie bei den Musikern: Ein Pianist, der nicht übt, kann auch keine schwierigen Konzerte spielen. Carrel gesteht aber ein: «Die Art und Weise, wie man vor 20 Jahren gearbeitet hat, zerstörte und verunmögliche ein geordnetes Familienleben. Das kann ich nicht befürworten.» Es brauche aber eine gesunde Balance, die Freiheiten lasse und beidseitig den Ansprüchen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gerecht werde, weil sich das System ansonsten an mehreren Stellen in den Schwanz beisse: «Ich erhalte von meiner Geschäftsleitung die Anweisung, in der Klinik möglichst wenig Überstunden zu generieren, muss aber alle Ansprüche unserer Patienten berücksichtigen und dazu noch denjenigen des Personals gerecht werden: das heisst Teilzeitstellen anbieten, Abwesenheiten wegen Bildungs- und Schwangerschaftsurlauben ohne Zusatzstellen überbrücken und die Weiterbildungsziele in der dafür vorgesehenen Zeit erfüllen und zuletzt dem Kostendruck standhalten. Das sind sehr grosse Herausforderungen, denen ich mich neben allen anderen Aufgaben stellen muss.»
Mit ihrer Haltung sind Carrel und Lüscher nicht allein. Kürzlich kritisierte auch Mazda Farshad, designierter neuer Direktor der Universitätsklinik Balgrist in Zürich, im Tages-Anzeiger, dass er engagierte Jungärzte wegen der Höchstarbeitszeit gegen deren Willen nach Hause schicken müsse und kritisierte so offen das Arbeitsgesetz.
Doch Angelo Barrile, SP-Politiker und beim VSAO engagiert, meldete sich in einer Replik und argumentierte, dass Farshad ein «rückwärtsgewandtes und überholtes Bild unseres Berufs» zeichne. Er fand: «Das Problem ist nicht die eine Operation, die ausnahmsweise etwas länger dauert. Es geht vielmehr um systematische Verletzungen aufgrund von zu viel administrativer Arbeit, zu wenig Personal und ungenügender Planung. Das ist inakzeptabel.» Damit bestätigt Barrile, was die über 20 befragten Assistenzärzte berichten: Die meisten sprachen die überbordende Bürokratie als eines ihrer Hauptprobleme an. Eine Assistentin meinte sogar: «Wir sind eigentlich bessere Sekretärinnen.» Und Alain, der junge Assistenzchirurg mit den 80-Stunden-Wochen, der sich im hierarchischen Spitalsystem so wohl fühlt, sagt: «Es muss sich etwas ändern. Starre Gesetze und mehr Teilzeitstellen sind aber nicht der richtige Weg. Ich bin überzeugt, wir könnten viel Zeit mit besseren Arbeitsprozessen einsparen: weniger Bürokratie, mehr administrative Unterstützung.» Diese Ansicht teilt auch Chefarzt Professor Thomas Lüscher. Immerhin in diesem Punkt scheint man sich einig.
Zumal die Wissenschaft zum selben Befund kommt. Im Januar veröffentlichte das Universitätsspital Lausanne eine Studie zum Thema. Das Resultat: Assistenzärzte verbringen bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von zwölf Stunden pro Tag dreimal mehr Zeit vor dem Computer als mit den Patienten. Seit der Einführung des neuen Klassifikationssystems vor fünf Jahren und den in den meisten Kliniken üblichen elektronischen Patientenakten hat die Papierflut explosionsartig zugenommen. Assistenzärzte sind das administrative Gewissen der Spitäler.
Kein Wunder, dass der Frust bei den jungen Ärzten tief sitzt. Anja Zyska, ausgebildete Arbeitsmedizinerin, sagt: «Ärzte studieren nicht sechs Jahre, um dann Büroarbeit zu leisten. Sie sollten praktizieren, das ist wichtig für eine gute Weiterbildung und für die Motivation. Ein Arzt vor dem PC ist verschwendetes Potential. Ich bin mir sicher, dass die Assistenzärzte zufriedener wären, wenn das Verhältnis zwischen Bürokratie und Patientenkontakt stimmte.»
Das Problem ist also erkannt. Weshalb ist es dennoch so schwierig, es zu lösen?
Das Kantonsspital Winterthur beschäftigt im stationären Bereich seit zwei Jahren sogenannte Clinical Nurses. Das sind erfahrene Pflegeangestellte, die sich weiterbilden lassen und neu ärztliche Aufgaben übernehmen dürfen. Stefan Breitenstein, Leiter der Chirurgie am KSW, sieht in diesem Projekt den Ausweg aus dem Teufelskreis: «Die Pflege bekommt neue Perspektiven, die Angestellten werden mit Aufgaben betreut, die nicht zur ihren ursprünglichen Kompetenzen gehören. Das motiviert die Betroffenen und den Ärzten wird ein Teil die zeitraubende Routinearbeit abgenommen.» Dies entlastet vorwiegend die Assistenten, die vorher für solche Aufgaben zuständig waren. Als angenehmer Nebeneffekt entfällt für sie so Büroarbeit und sie können wieder mehr Zeit im OP-Saal verbringen.
Obschon das Konzept als revolutionär gilt, bleibt das KSW bisher das einzige Schweizer Spital mit dieser Strategie. Voraussetzung dafür sei ein grundlegender Kulturwandel, sagt Breitenstein: «Die Kommunikation auf Augenhöhe ist für eine solche Umstrukturierung eminent wichtig. Das gegenseitige Vertrauen muss gegeben sein und dafür müssen die Hierarchien flacher werden. Bei uns werden die Diskussionen weniger über die hierarchischen Titel geführt, sondern man muss mit Einsatz und Persönlichkeit überzeugen.» Für den Chefarzt ist es dann auch nicht verwunderlich, dass sich andere Krankenhäuser damit schwertun: «Dieses Umdenken entspricht nicht der bisher gelebten Hierarchie. Das widerstrebt den — klassischerweise eher narzisstischen — Führungskräften der Kliniken.»
In Zeiten des Fachkräftemangels möchte Breitenstein die besten Talente, die besten Ärzte und die kriege er nur, wenn er ein attraktiver Arbeitsgeber sei. Ihm sei bewusst, dass kulturelle Entwicklungen Zeit bräuchten, aber Spitäler, die sich nicht vorwärts bewegten, seien selber schuld: «Wer seine Ärzte immer noch 80 Stunden pro Tag schuften lässt, wird sie über kurz oder lang verlieren. Diese Zeiten sind vorbei.» Seiner Meinung nach ist die Generation Y nicht weniger motiviert als vorhergehende. Die Wertehaltung habe sich allerdings verändert. «Es ist die Aufgabe der Spitäler, sich anzupassen, nicht umgekehrt.»
Dominik, der junge Chirurg, desinfiziert seine Hände, verkeilt die Finger, reibt, knetet sie. Der beissende Alkohol steigt auf, zerstreut in der Luft und weicht dem rostigen Iod und dem Plastikduft des bläulich gescheckten Linoleumbodens. Dominik tritt in den Eingangsbereich und eilt mit Ärzteschritten auf die automatische Schiebetür zu. Im nahegelegenen Fast-Food-Restaurant kippt der Assistenzarzt seinen Espresso in einem Zug weg und stellt ihn mit fliessender Bewegung zurück auf die Untertasse. Es ist der fünfte heute — entspricht seiner Ration, obwohl Koffein längst nicht mehr wirkt. Er seufzt. Morgen beginnt der Urlaub. «Ich muss noch die 250 Überstunden aus dem Vorjahr kompensieren.»
Es begann vor einem Jahr, im Februar 2016. Nach einer Freitagnacht plärrte das Handy Dominik aus dem Tiefschlaf. Der dröhnende Kopf und der Alarm zerfetzten die Gedanken. Seine Kehle war rau, vom Bier belegt. Um diese Zeit telefonierte nur die Notfall-Station. Er hatte frei, hätte weiterschlafen können, wie geplant den Kater wegfrühstücken, die ersten Frühlingstage geniessen, das Handy ignorieren. Doch Dominik nahm ab. Es war die Kollegin mit eingefallener Stimme. Die Ablösung habe sich krankgemeldet, seit vierzehn Stunden hatte sie pausenlos die Notfälle versorgt. Sie konnte nicht mehr.
Kurz darauf war er im Spital, der Vorabend trommelte auf seiner Stirn, er arbeitete durch und übernahm zusätzlich noch die Nachtschicht der abwesenden Ärztin. Als die Sonne wieder schien trat er die vorgesehene Frühschicht an. Die Ablösung liess ein Jahr auf sich warten. Sie sei erschöpft und brauche eine Auszeit, vermeldeten die Kaderärzte. Einen Ersatz gab es nicht. Die Arbeit blieb: Dienstpläne wurden umgekrempelt, Schichten verteilt, Pensa aufgebläht. Dominik erbte einen Grossteil ihrer Aufgaben. Sein Leben passte sich dem aus den Fugen geratenen Dienstplan an:
Es waren die langen Nächte ohne Erholung. Dominik schleppte die Müdigkeit weiter, ins Wochenende, zum Feierabendbier, zu seinen Freunden. Wenigstens frische Luft in den fünf Minuten Radweg zum Spital. An den wenigen Abenden trank er, wollte nicht reden. Und immer wieder die Bemerkung, dass er sich so verändert habe in letztes Zeit. Dominik erwiderte jedes Mal beschwichtigend, das sei nur gerade so eine Phase. Das gehe schon vorüber, gehöre halt dazu. Bis er seine Freunde nicht mehr traf, sich unter der Bettdecke verkroch, seine obligatorische Fachliteratur auf dem Nachttisch liegen liess.
«Ich war Teil des Systems. Ich glaubte, das sei normal», sagt Dominik nun mit erstickter Stimme, mit dem Fuss schlägt er einen Sechzehnteltakt und wendet seinen Blick ab, als tue er etwas Verbotenes.
Das System, das war Dauerstress: 20 Notfälle pro Nacht, aufgeriebene Oberärzte, schreiende Kinder, schreiende Telefone, Blut, Verantwortung, Überforderung. Die dunklen Ringe, Zeugen der letzten zwölf Monate, die schattenartig Dominiks geröteten Augen umfassen, gingen nicht mehr weg. Einen Ausweg sah er nicht: «Wenn ich nicht mehr da bin, kommt der Nächste. Mein Schwerpunktfach und das Spital sind überaus beliebt. Wer Karriere machen will, muss hier durch. Die Bewerber stehen Schlange, die Vorgesetzten wissen das und dementsprechend behandeln sie mich. Wer sein ganzes Leben unter diesen Umständen schuftet, verroht, verliert Empathie. Das würde mir auch passieren.»
Dominik, der schon als Kind seinen Eltern mit dem Stethoskop den Puls abnahm, dachte ans Aufhören. Im Herbst immatrikulierte er sich für ein Fernstudium in Chemie. Er startete mit Plan B: Umsteigen in die Pharmabranche, wo Mediziner mit Zusatzstudium begehrt sind. Die Vorteile: Teilzeitstellen, gute Bezahlung, Flexibilität, geregelte Arbeitszeiten. Zwei Mal die Woche lernte er, die Prüfungen schrieb er in den Ferien. Er bestand sie alle. Seine Freunde unterstellten ihm, er sei verrückt. Aber es ist seine Art: Um ein Problem zu lösen, schuftete er mehr, indem er lernte. Auch wenn das Problem das Schuften an sich war.
Er sei drauf und dran gewesen, seinen Traum gegen eine bessere Work-Life-Balance einzutauschen. Denn das Spital sei längst wie ein schwarzes Loch: «Entweder akzeptierst du das System, wirst reingesogen, Teil davon und arrangierst dich. Oder du missbilligst es, sträubst dich und wirst zerschmettert. Es ist totaler Irrsinn.» Bevor er in die Ferien fuhr, war er sich sicher: «Nicht mit mir.»
Nun sind die Ferien vorbei. Die Abendsonne vertreibt in der Einkaufspassage die Überreste des Winters. Eine zarte Bräune bedeckt Dominiks Augenringe. Sie schimmern durch wie Narben aus vergangener Zeit. Er war im Süden. Endlich wieder Sonne. Die fensterlosen Korridore und das Grossraumbüro kennen nur Neonröhrenlicht. Er habe viel überlegt, sagt er, als er wieder bei seinem Lieblingsitaliener sitzt. «Ich habe mein Leben der Medizin verschrieben, ich kann nichts anderes. Seit ich 18 bin, lebe ich für diesen Beruf.» Die Eltern sind stolz. Ein Arzt in der Familie. Der Ehrgeiz lässt nur eine Entscheidung zu: «Jetzt aufzugeben, wäre wie einen Marathon auf den letzten Metern abzubrechen. Das würde ich mir nie verzeihen.»
Heute habe er eine alte Dame operiert, erzählt er. Auf dem Tisch sitzt der Schokoladenosterhase, den sie ihm zugesteckt hat. Es sei die Dankbarkeit der Patienten, die ihn an den Beruf fesselt; die Gewissheit, das Richtige zu tun. Er wolle Chirurg werden. Um das zu schaffen, müsse er sich anpassen, das gehöre dazu: «Ich überlebe die nächsten Jahre nur als weisses Chamäleon.»
Seinen Groll auf das System ist er deswegen nicht los. Neben dem Osterhasen liegt eine aufgeschlagene Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung. Die Schlagzeile: «Mit dem Gesetz in Konflikt: Spitäler wollen Arbeitszeitregeln aufweichen». Er lacht auf. Es sei irrsinnig. Purer Irrsinn. Die würden sich erst bewegen, wenn sie nicht mehr anders könnten, bis niemand mehr mitmache. Bis zum Kollaps.
Nächste Woche werde er mit dem Chefarzt über seine berufliche Zukunft sprechen, sagt er. Die Demütigung vergessen. Dominik fährt sich über den Bauch. Verzieht das Gesicht, duckt sich leicht. Er hebt beschwichtigend die Hand, es sei nichts Schlimmes. In den Ferien begannen die Krämpfe, die sich anfühlen, als würde sich die Muskeln schubartig verknoten. Er leide an einem Magenulkus, typische Folgeerscheinung von psychosozialem Stress. Bei diesem Geschwür erodiere ein Säureüberschuss die schützende Schleimhaut. Er sollte dabei darauf achten, dass er keinen Kaffee und kein Alkohol konsumiere, damit das zu aggressive Milieu im Magen nicht noch saurer werde. Medikamente helfen. Dominik starrt in die Espressotasse, nimmt einen grossen Schluck und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.