Täter und Engel
von
Die Namen aller Personen wurden geändert.
Als seine Tochter im Oktober 2014 in Gingen bei Stuttgart begraben wird, hält Dimi eine Andacht in seiner Zelle. Er lädt Mitgefangene ein, kocht Kaffee für alle und zündet Kerzen an. Jemand liest seinen Abschiedsbrief vor, denselben, den Dimis Bruder an der Beerdigung verliest.
Seine Familie hat ihm ein Bild der aufgebahrten Sara geschickt. Einige der Mithäftlinge finden das makaber, aber Dimi meint, er hätte sie ja auch in Freiheit aufgebahrt sehen wollen. Er schaut das Foto an und schickt es wieder zurück, so als ob er den Totenraum betreten und ihn wieder verlassen hätte.
Die Stiche an Sara und Leon, denkt Dimi manchmal, galten eigentlich ihm.
Drei Wochen nach Saras Begräbnis erhält Dimi den ersten Brief seiner Frau. Diana sitzt in der Psychiatrie Bad Schussenried in Untersuchungshaft, geständig und bestürzt, wie Dimi anderthalb Jahre zuvor auf dem Zürcher Polizeiposten.
„Ich weiss nicht, was ich schreiben soll“, hat Diana zittrig und fehlerhaft geschrieben, eine Schrift am Rand des Zusammenbruchs. „Bitte schreibe mir zurück, damit ich Kraft bekomme. Und wir vielleicht wieder mit Leon eine Familie sein können.“ Sie hat ein weinendes Gesicht und vier Herzen dazu gemalt.
„Was willst du ihm sagen?“, antwortet Dimi ein paar flehende Briefe später. „Ich bin deine Mama, die dich umbringen wollte?“
„Mein Leben war schon kaputt an dem Tag, als du die Tat begangen hast“, schreibt ihm Diana im Januar 2015 zurück, es ist ihr letzter Kontakt. „Du weisst gar nicht, was du in mir angerichtet hast.“
Mit diesem Brief endet die kurze Geschichte einer schwäbischen Familie, die ihr Glück in der Schweiz finden wollte und sich in zwei blutigen Verbrechen auflöste; die Nachbarn, Freunde und Verwandte zurücklässt, die sich augenreibend fragen, wie sich dieser Horrorfilm ins reale Leben schleichen konnte. 17 Hammerschläge, 26 Messerstiche, 2 Tote.
Aber es ist das reale Leben.
Dimi sitzt im Gefängnis, verurteilt zu 13 Jahren wegen vorsätzlicher Tötung. Diana sitzt in der Psychiatrie, verurteilt zu 9 Jahren wegen Totschlags. Sara liegt in Gingen bei Stuttgart, in einem Grab mit kitschigen Herzen und Engeln. Und Leon, der stumme Zeuge, wird irgendwann Fragen stellen.
Wie ein Märchen
Im März 2015 tritt Dimi in den Besucherraum der JVA Pöschwies, ein kahler Raum aus gelbem Backstein, mit Automaten für Kaffee und Snacks. Dimi trägt Turnschuhe, Gefängniskleidung (dunkelbraune Hose und blaues T-Shirt), kurze Haare (spart Shampoo) und eine Kastenbrille, die nicht so ganz zu seinem Kopf passen will: Ein runder, starker Schädel, eine Nase, breit wie die eines Boxers. Dimi ist trainiert, das T-Shirt spannt sich über den Arm.
Auf den ersten Blick könnte man Dimi für einen harten Typen halten, auch wegen der Tattoos. Ein Tribal mit einer versteckten 69, das Alter, in dem sein Grossvater starb, am Rücken. Auf der linken Hüfte steht „Hoffnung“ in chinesischen Schriftzeichen, er liess es sich 2007 stechen, als er von Diana getrennt lebte. Auf der linken Brust trägt er den Handabdruck von Sara als Säugling. Auf dem rechten Unterarm das Gesicht von Leon. Die Familie ist auf Dimis Körper verewigt.
“Familie ist für mich alles.” Das sagt Dimi immer wieder. „Eigentlich ist Dimi ein Spiesser, ein echter Schwabe“, sagt Markus, sein bester Freund. Andere aus der Realschulklasse gingen weg, nach Berlin, ins Ausland. Aber Dimi, sagt Markus, der wäre am liebsten gar nie gegangen. Dimi wollte ein Mädchen kennen lernen, Kinder haben, ein Haus bauen sogar, Enkelkinder. Damit wäre er zufrieden gewesen.
Eine Familie, denkt man, das kriegt doch jeder hin.
“Angefangen hat es ja wie ein Märchen”, sagt Dimi, der ein guter Erzähler ist, wenn auch mit Hang zum Kitsch. Dimi war etwa 23 und in einer verrückten Phase. Seine erste Beziehung war in die Brüche gegangen. Er arbeitete in Bars in seiner Heimat Göppingen, einer Kleinstadt nahe Stuttgart, und stürzte sich nach Arbeitsschluss ins Partyleben. Er probierte Kokain, Speed, X. Und, erzählt er, bumste alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Aber eigentlich, sagt Dimi, sei das nicht er gewesen. Er sei im Grunde ein Romantiker.
Das erste Mal sah Dimi Diana im Café, in welchem er arbeitete. Sie war die Freundin eines Freundes, Dimi vergass sie gleich wieder. Genau ein Jahr später, am 12. Mai 2002, kam Dimi nach einer durchgefeierten Nacht zur Frühschicht ins Café. Er zog etwas Speed, bevor er das Gedeck für Kaffee und Kuchen aufstellte. Ein Freund kam vorbei und sagte, er besuche später eine Freundin. Dimi solle auch vorbeischauen.
Als Dimi klingelte, öffnete die junge Frau, die er ein Jahr zuvor gesehen hatte. Diesmal habe es Boom gemacht, sagt Dimi. Er blieb gleich zwei oder drei Tage bei ihr. Dann gingen sie raus, zogen Linien. Er sei so schräg drauf gewesen, sagt Dimi, dass er in Dianas Gegenwart Frauen auf der Tanzfläche die Zunge in den Mund steckte. Aber Diana sei so lässig gewesen, sie habe das alles ganz locker genommen.
Ein paar Wochen später schrieb ihm Diana, er solle sie am Abend besuchen. Jetzt ist es aus, dachte Dimi, ich bin zu weit gegangen. Doch Diana erwartete ihn mit einem Candle-Light-Dinner. Sie war schwanger. Dimi floh praktisch aus dem Haus. Nicht wegen dem Kind, wie er betont. „Wer bumsen kann, kann auch Vater sein.“ Aber Dimi war nicht sicher, ob er diese Beziehung wollte.
Doch dann sagte ihm ein Freund: „Willst du, dass dein Kind am Sandkasten einem fremder Mann Papa sagt? Probier es doch mal.“ Also probierte es Dimi. Am 12. Mai 2003, kurz vor seinem Geburtstag, kam Sara zur Welt. Als Dimi sie mit der Hebamme wusch, öffnete Sara die Augen und schaute ihn an. Deshalb, glaubt Dimi, hätten sie eine ganz besondere Beziehung gehabt.
Drei Menschen starteten ins grösste Abenteuer menschlicher Existenz: Sich zu einer Familie zu vereinen – und eine zu bleiben, vielleicht sogar bis zum Ende des Lebens.
Zwei Jahre später wäre fast Schluss gewesen. Diana betrog Dimi. Er blieb oft zuhause mit Sara, während Diana feiern ging. Er gönnte es ihr ja, schliesslich hatte sie Sara neun Monate in sich getragen. Eines Abends konnte seine Mutter die Kleine zu sich nehmen, Dimi wollte seine Frau überraschen. Er klapperte die Bars in Göppingen ab. Schliesslich fand er das Familienauto vor der Wohnung eines Freundes. Er klingelte und sah, wie sich die Gardinen bewegten.
Irgendwie, sagt Dimi, bogen sie es wieder gerade. Doch wiederum zwei Jahre später folgte die Retourkutsche. Dimi arbeitete im „Rock Café“. Nach Dienstschluss ging er mit zur Polin, die mit ihm hinter der Bar stand. Mitten in der Nacht kehrte er nach Hause zurück. Am Morgen weckte ihn Diana, sie hatte Schminke an seinem T-Shirt entdeckt. Sie schmiss ihn raus.
Dimi zog zurück ins Haus der Eltern. Die Monate bis Ende 2007 lebte er getrennt von Diana und der nun vierjährigen Sara. Doch mitten in der Silvesternacht rief Dimi Diana an. “Versuchen wir es nochmals”, schlug er vor. “Ok”, sagte Diana. Am 8. August 2008 verlobten sie sich, und bloss einen Monat später heirateten sie.
Für Dimi war klar: Er ist der Ernährer der Familie. Doch Dimi, gelernter Automechaniker, fand einfach keine feste Stelle und hangelte sich von einem Temporärjob zum nächsten. Als die Wirtschaftskrise auch im Schwabenland ein wenig einschlug, fand Dimi gar nichts mehr. Er musste aufs Amt. Andere Freunde eröffneten Läden, kauften Autos.
Im Frühling 2010 hatte Dimi endlich Glück. Er kriegte die Stelle als Einrichter im Ostschweizer Werk eines schwäbischen Motorsägenherstellers. 5000 Franken, Feriengeld, Weihnachtsgeld. „Wir hatten alle das Gefühl, das wird super, jetzt bauen sie sich in der Schweiz etwas auf“, sagt Markus. Kurz vor seinem 31. Geburtstag feierte Dimi im Haus seiner Eltern eine Abschiedsparty. Nach dem Osterfest – es gibt ein Foto davon; Dimi, Diana und Sara grillieren eine Schafshälfte vor ihrer Wohnung – fuhr Dimi los. Diana und Sara kamen zwei Wochen später nach.
Neustart
Im April 2010 zog die junge Familie in ein Mehrfamilienhaus mit beiger Fassade und grünen Fensterläden am Rand von Balterswil, einem Dorf zwischen St. Gallen und Winterthur. Zurückhaltend sei sie zu Beginn gewesen, sagen die Nachbarn, auch ein wenig stolz, eine Familie halt, die neu anfängt. Man begann, einander zum Kaffee einzuladen. Diana, gelernte Coiffeuse, schnitt den Nachbarskindern die Haare. Dimi half Facinis, die neben den Winters wohnen, beim Transport des neuen Familientischs. Abends assen beide Familien Spaghetti am neuen Tisch.
Dimi erinnert sich gerne an die Zeit in Balterswil; an den Spielplatz in der Mitte der Siedlung, an den Wald, in dem er mit Sara im Sommer Würste brätelte und im Winter Schlitten fuhr. Dimi fiel der Neustart leichter als Diana; er ist ein Kumpeltyp, er lernte Jungs bei der Arbeit kennen und trat dem örtlichen Dart-Verein bei. Die schüchterne Diana hatte es schwerer. Sie ging selten aus dem Haus. “Das wird schon”, sagte ihr Dimi.
Im Herbst 2011, als Dimi eines Morgens die Hose anzog, fand er in der Tasche einen rosa Zettel. “Herzlichen Glückwunsch, Papa”, stand darauf. Diana grinste. Sie war schwanger. Sara kriegte endlich den Bruder, den sie sich herbeigesehnt hatte.
Leon kam im April 2012 zur Welt. Doch der Kleine, sagen Freund und Nachbarn, habe die Familie überfordert. Schon die Frage nach seinem Namen führte zu einem Familienstreit. Dimis Vater wollte ihn nach griechischer Tradition nach dem Grossvater benennen, Diana war dagegen.
Nach der Geburt sei sie ständig gereizt gewesen, sagt Dimi. Sie habe sich noch mehr ins Haus zurückgezogen, sagen auch die Nachbarn. Dimi trat die Flucht an. Nach der Arbeit ging er oft zu seinem Bruder, der im benachbarten Aadorf lebte. Pavlos, der Mitte 20 nach Griechenland ausgewandert war, hatte während der Wirtschaftskrise den Job verloren. Er suchte sein Glück nun auch in der Schweiz.
Über seine Probleme redete Dimi mit seinem Bruder nicht. Sie gamten, schauten Fussball. Und kifften. Dimi kiffte mit Pavlos, er kiffte im Auto nach dem Migros-Einkauf. Er sagte Diana, er gehe kurz im Wald spazieren, und kiffte. Er kiffte mit Diana, damit sie beide runterkamen.
Das Gras kriegte Dimi von seinem neuen Freund Chang. Chang arbeitete als Einrichter in der Werkbank, die Dimi inzwischen beaufsichtigte. Er war jünger, schüchtern, trug Gangsta-Kleider und ein Tattoo. „No Fear“ stand da. Manchmal schenkte er Dimi einen ganzen Sack Gras. Das seien Reste, sagte er. Eines Tages fuhr Chang mit einer schwarzen Corvette vor. Dimi vermutete, dass er ein Dealer war – was ihn nicht davon abhielt, von ihm 2000 Franken für eine Kieferbehandlung für Sara zu leihen.
Chang war nicht Dimis einziger Gläubiger. Dimi wollte seiner Familie endlich was bieten. Sie kauften neue Möbel, eine Digicam und einen gebrauchten Audi als Familienauto. Weil die 5000 Franken Monatslohn dazu nicht reichten, nahm Dimi Leasingkredite auf. Bald konnte er die Raten nicht mehr zahlen. Irgendwann, erzählt Dimi, habe er die Rechnungen gar nicht mehr geöffnet. Ein Freund riet ihm schliesslich, beim Konkursamt Lohnpfändung zu beantragen. Von da an überwies Dimi den Lohn direkt dem Amt und erhielt 4600 Franken als Existenzminimum.
Die Schulden bei Chang konnte Dimi abarbeiten. Im Oktober 2012 fuhr ihn Chang nach Winterthur-Töss in eine seiner Hanf-Indooranlagen, die mit professionellen Wärmelampen und Wassersprenklern ausgestattet war. Chang bot ihm 40 Franken die Stunde als Erntehelfer an. Ein paar Tage kroch Dimi auf allen Vieren über die Beete und sammelte Blüten ein. Sie juckten ihn, und nach der Arbeit stank er einen Kilometer gegen den Wind nach Gras.
Bei der Arbeit im Werk fehlte er dafür immer öfter. Er wurde wieder zum Einrichter abgestuft. Abends blieb er bis spät bei Pavlos. Wenn er am Morgen aufwachte, war Diana wieder sauer. Sie vermutete eine Affäre und suchte Dimis Handy nach Kontakten ab. „In einem Jahr warf sie zwei Handys an die Wand“, sagt Dimi.
Dimi hatte keine Affäre. Aber er betrog Diana. Chang, der kaum Freunde hatte, nahm regelmässig Arbeitskollegen mit ins Puff und zahlte ihnen Drinks und Frauen. Einmal nach dem Ernten kam auch Dimi mit. Chang zahlte ihm eine halbe Stunde mit einer Frau in der Dübendorfer „Bumsalp“. Im Dezember dasselbe Programm im „Blauen Aff“ in Affeltrangen.
Dimi rauchte mittlerweile zehn bis fünfzehn Joints pro Tag. Das Gras half ihm nicht mehr, um runterzukommen. Es machte ihn ängstlich und unruhig. Die erste Panikattacke kriegte er auf der Rückfahrt von den Sommerferien in Pisa. Plötzlich befiel ihn eine Angst, dass etwas Schreckliches geschehen würde, dass jemand sterben würde.
„All das Gras, der Stress“, sagt Dimi, „und Bum, dann ist Chang tot.“
Am offenen Herzen
Dimis Neujahrsvorsätze für 2013 lauteten: Keine Ausflüchte. Schluss mit Kiffen. Daheim bei der Familie bleiben. Zu Weihnachten schenkte er seinem Bruder das übrige Gras. Doch dann wurde Dimis Vater mit einem Herzinfarkt ins Spital eingeliefert. Eine risikoreiche Bypass-Operation stand bevor. Dimi kiffte wieder.
Anfang Februar lief Dimi am Bahnhof Wil Chang über den Weg. Sie hatten sich eine Weile nicht mehr gesehen, Dimi wollte aufhören mit der Erntehilfe. Ob er nicht noch einmal helfen könne, fragte ihn Chang. “Ein letztes Mal”, sagte Dimi.
Dimi fährt sich mit den Händen über den Kopf, als er im Besucherzimmer der JVA Pöschwies vom 7. Februar 2013 erzählt. Von diesem Tag gibt es nur eine Version – seine.
Um 18 Uhr fuhr er mit Chang in ein Gartenbaugeschäft in Sirnach, Dimi im BMW seines Bruders (der Audi war in der Werkstatt), Chang in seinem Hyundai. Mit neun Säcken Pflanzenerde und einer Wasserpumpe fuhren sie in eine Gewerbeliegenschaft am Rand von Kloten, in eine von Changs Plantagen. Sie verstauten die Einkäufe. Danach wollte Chang in die „Bumsalp“ feiern gehen. Dimi hatte ihm schon gesagt, dass er keine Lust hatte. An dem Abend würde sein Vater in der Uniklinik Tübingen am offenen Herzen operiert werden.
Dimi sagte Chang nochmals, dass er aussteigen wolle. Im Vorraum der Plantage packte er seine Arbeitskleider, die noch von der letzten Ernte auf dem Boden lagen, in einen Plastiksack. „Du kannst nicht aussteigen“, soll Chang gesagt haben, „du weisst zu viel.“ Aus den Augenwinkeln sah Dimi, wie Chang mit erhobenem Hammer über ihm stand. Dimi rannte zum Lift, Chang hinterher. „Du bist tot, deine Kinder sind tot“, hörte er Chang rufen.
All die Befürchtungen über Chang schienen sich zu bewahrheiten, sagt Dimi. Chang, der behauptete, ein Gangsterleben zu führen, der Dimi seine Pistolen und Munition gezeigt hatte (es waren Luftdruckpistolen, fand die Polizei später heraus) und hinter dem Dimi eine Bande vermutete, die ihn heimsuchen würde.
Doch Chang war harmlos. Er war eher der Chang, der keine Freundin fand und sich in Prostituierte verliebte. Er bluffte auf der Arbeit, markierte den harten Mann und erzählte seinen wenigen Freunden, dass er sich von den Menschen abwende. An einem Familienfest hatte er seiner Schwester aber gestanden, dass er doch nicht ohne Menschen leben könne.
„Das waren zwei Menschen mit einem grossen Rucksack, die an diesem Tag aufeinandertrafen“, sagt Dimis Anwältin.
Dimi drehte sich um und entriss dem kleineren Chang den Hammer. Er schlug ihn auf den Kopf. „Deine Familie ist tot“, rief Chang, auch noch als das Blut über ihn strömte. Dimi schlug zu, bis Chang bewusstlos zu Boden ging. „Ich wollte, dass er ruhig ist“, sagt Dimi später den Polizisten.
Er schleppte Chang in die Plantage und legte ihn auf ein Beet, Gesicht nach unten. Laut Gerichtsmedizin lebte Chang da noch. Dimi zog ihm die Schuhe aus, die Trainerjacke, die Trainerhosen. Er wickelte ein Kabel um seinen Hals. Er fuhr die elektrische Vorrichtung für die Lampen herunter, hängte das Kabel daran und fuhr sie wieder hoch.
Chang starb den Tod durch Strangulation, obwohl die 17 Schläge in der Schädeldecke vielleicht auch gereicht hätten, wie die Gerichtsmediziner schreiben.
Danach fuhr Dimi zu seinem Bruder. Er müsse ihm helfen, sagte ihm Dimi, es sei Notwehr gewesen. Dimi zog sich frische Kleider von Pavlos an und fuhr zu Changs Wohnung in Zuzwil. Dort fand Dimi in leeren DVD-Hüllen Geldbündel, die Einnahmen aus den Plantagen. Dann fuhr er zu seinem Bruder zurück. Mit Wischmop, Putzmittel und Kehrichtsäcken kehrten sie zum Tatort zurück. „Dimi sagte kaum was. Nur, jetzt rechts, jetzt da lang“, erzählt Pavlos.
Dimi wollte, dass ihm Pavlos beim Putzen half. Pavlos weigerte sich. Dimi ging allein nach oben, putzte die Blutspuren und packte Changs Kleider in einen Kehrichtsack. In Pavlos’ BMW und Changs Hyundai fuhren sie nochmals nach Zuzwil. Dimi stellte den Hyundai in die Tiefgarage. Pavlos lud Dimi in Balterswil ab. Es war weit nach Mitternacht und kalt, Schnee lag auf den Feldern.
Die Kinder schliefen schon, aber Diana war noch wach. Dimi weiss nicht mehr, was er ihr erzählte. Sie rauchten einen Joint zusammen und gingen zu Bett. Dimi machte kein Auge zu in dieser Nacht. Er wollte nur noch eins: Seinen Vater sehen. Die Operation war geglückt.
Am nächsten Morgen begann es in der Indoor-Plantage in Kloten zu qualmen. Die Wärmelampen hatten die Holzbalken in Brand gesetzt. Die Feuerwehr stiess auf eine versengte Leiche. Die Polizei fand auf Changs Handy den letzten Kontakt: Dimi.
Als die Polizei Dimi wegen Verdacht auf Tötung zur Fahndung ausschrieb, war er bereits auf dem Weg in die Heimat.
Am späten Abend des Freitags, 8. Februar 2013 stand Dimi vor der Tür seiner Eltern im schwäbischen Göppingen. Er wischte sich den Schnee vom Mantel, erinnert sich seine Mutter, aber er schaute sie nicht an. Dimi sagt, er wisse fast nichts mehr von diesen Tagen. Nur noch, dass sie am Sonntag seinen Vater in der Klinik besuchten. Am Abend fuhr Dimi zu seiner Familie nach Balterswil zurück. Er habe sich ja stellen wollen, meint Dimi. Aber er habe geahnt, dass es nicht mehr lange dauern würde.
Am Montagmorgen, erinnert sich Dimi, sagte er Diana: „Wenn sie kommen, weisst du von nichts.“ - „Von was redest du?“, erwiderte sie. Kurz bevor Dimi zur Nachmittagsschicht im Werk hätte aufbrechen müssen, fuhr die Polizei vor. In der Wohnung fanden die Beamten 13000 Franken im Schrank und 4000 Franken in seiner Jacke. Im Verhör der Kriminalpolizei gestand Dimi nach wenigen Minuten unter Tränen, Chang getötet zu haben.
Wieso er Chang die Kleider ausgezogen habe, fragten die Polizisten.
„Ich weiss es nicht“, antwortete Dimi.
Wieso er das Geld genommen habe.
„Ich weiss es nicht“, antwortete Dimi.
Die Pflichtverteidigerin, die ihn am nächsten Tag besuchte, sah ihren Mandanten in der Arrestzelle kauern. „Das erste, was ich dachte, war: Das ist jemand, bei dem was ganz schief gelaufen ist“, sagt sie. Das psychiatrische Gutachten über Dimi hält fest: Aufgewühlt, bemüht um introspektive Haltung, geringe Rückfallgefahr. Dimi sei wegen dem Kiffen und dem Stress in der Familie unter Druck gestanden. Schuldunfähig, sagen die Psychiater, sei er deswegen aber nicht gewesen.
Im Mai 2014, 15 Monate nach der Verhaftung, wurde Dimi wegen vorsätzlicher Tötung zu 13 Jahren Haft verurteilt. Zugute hielten ihm die Richter einzig, dass er geständig war und keine Vorstrafen hatte.
Diana kam nicht zum Prozess.
Helikopter
In Balterswil sprach sich schnell herum, weshalb die Polizeiautos Dimi mitgenommen hatten. Entweder bist du nun eine Freundin oder nicht, dachte die Nachbarin Hanna Winter und ging hinüber. Diana öffnete. „Sie war fix und fertig, sie wollte sich von Dimi schieden lassen“, erzählt Winter. Und sie fürchtete, dass man sie im Dorf schon als „Mördergattin“ bezeichnete.
Winter ging mit ihr aufs Sozialamt, um ein Notdossier zu eröffnen. Die Miete musste bezahlt werden, Dimi hatte offene Rechnungen hinterlassen. Die Nachbarn kauften für Diana ein. Auch Dimis Eltern boten Hilfe an. Doch Diana packte Dimis Sachen in Säcke, seine Eltern mussten sie abholen.
Diana wollte so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkehren. „Wieso gehst du zurück“, sagte ihr Hanna Winter, „du hast hier gute Nachbarn, Sara ihre Freundinnen.“ Ein paar Tage später fuhr der Zügelwagen vor. Die Nachbarn sammelten ein paar hundert Franken für die Rückkehr in die Heimat.
Diana zog mit der zehnjährigen Sara und dem einjährigen Leon nach Gosbach, 20 Autominuten von ihrer Heimat Gingen entfernt. Den neuen Nachbarn stellte sie sich als geschiedene Mutter vor. Die Familie lebte von Hartz IV, an Weihnachten schickten die alten Nachbarn aus Balterswil nochmals Geld. Diana bedankte sich mit einer Karte und schrieb, es sei schon eng, damit könne Sara wieder mal ein Klassenlager besuchen.
Auch Dimi schickte von dem Geld, das er als Küchenhilfe in der Untersuchungshaft bekam. Doch Diana antwortete nicht auf seine Briefe. Erst im Oktober 2013, ein halbes Jahr nach der Verhaftung, schrieb sie ihm. Sie versprach, künftig von den Kindern zu berichten. Sara gefalle es am neuen Ort in der Schule, auch wenn sie Mühe mit Rechnen habe. Leon sei gross geworden, Auto sei sein Lieblingswort. „Depressionen machen mir noch etwas zu schaffen, aber du musst dir keine Sorgen machen“, schrieb Diana.
Als Dimi im Januar 2014 vom Untersuchungsgefängnis in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies nördlich von Zürich verlegt wurde, konnte er regelmässig mit seiner Frau telefonieren. Im April 2014 kam Diana mit Sara zu Besuch. Das erste Mal seit mehr als einem Jahr standen sie sich wieder gegenüber. Hinter der Rutsche in der Familienecke, wo die anderen sie nicht sahen, wollte Dimi sie umarmen. Doch Diana wollte nicht – noch nicht.
Diana hatte zu dieser Zeit ein Verhältnis mit einem alten Liebhaber, das sie aber kurz nach dem Besuch wieder abbrach. Sie habe Dimi eins auswischen wollen, sagt sie später der Polizei. Wenige Tage nach der Urteilsverkündung im Mai 2014 kam Diana mit Sara wieder zu Besuch. Dimi sagte ihnen, dass er hoffentlich nach zwei Dritteln entlassen werde. „Cool, dann bin ich 18 und hol dich mit dem Auto ab“, meinte Sara. Auch Diana lächelte, sagt Dimi. „Es war schön. Noch nicht wie eine Familie, keine Küsse, aber schön.“
Sie telefonierten nun fast jeden Tag. Dimi realisierte, wie sich von seiner Frau eine andere Diana abspaltete. Diese Diana erzählte ihm von einem Shitstorm auf Facebook gegen sie, von Passanten, die sie an der Bushaltestelle und im Supermarkt fotografierten und auf sie zeigten.
Schon im Sommer 2013, kurz nach dem Umzug nach Deutschland, hatte sich Diana in eine Klinik einweisen lassen. Doch die Medikamente stoppten ihre Wahnvorstellungen nicht. Diana glaubte, aus den Helikoptern, die in der Klinik landeten, beobachtet zu werden. „Mama dreht langsam durch“, sagte Sara Dimi immer wieder am Telefon. „Sie braucht Hilfe.“ Man half ihr ja. Diana liess Leon oft bei ihren oder Dimis Eltern, damit sie mit Sara Hausaufgaben machen konnte. Diana wollte eine gute Mutter sein. Sie hatte Angst, dass man ihr die Kleinen wegnehmen würde.
Der letzte Kuss
Am 3. Oktober 2014 kamen Diana und Sara zum dritten Mal zu Besuch ins Pöschwies. Surreal war es, sagt Dimi. Diana sei wie verwandelt gewesen. Sie küssten sich, sie knutschten richtig, erzählt Dimi, so dass sich Sara schämte. Sie sei an allem schuld, meinte Diana, sie habe ihn zu allem getrieben. Das stimme nicht, erwiderte Dimi. Und er dachte: Vielleicht wird es doch noch gut. Wir biegen’s wieder hin.
Knapp zwei Wochen nach dem Besuch schrieb Dimi seiner Frau: „Ich würde mich unendlich darüber freuen, wenn ich mit dir alt werden könnte. Ich liebe dich so sehr, dass es für mich das Schönste wäre, unsere Kinder als liebendes Ehepaar aufwachsen zu sehen, als stolze Eltern auf ihren Hochzeiten zu tanzen mit dir zusammen unsere Enkelkinder im Arm zu halten.“
Der Brief kam zu spät an.
Am Abend des 18. Oktober 2014 fuhr Diana mit Sara nach Balterswil, Leon war bei ihren Eltern. Diana rief Hanna Winter an, die ehemalige Nachbarin. Sie war auf einem Vereinsausflug und schlug vor Diana, bei den Facinis nebenan zu warten. Doch als Winter zuhause ankam, war Diana schon wieder auf dem Heimweg. „Jetzt kehrst du um“, befahl Winter am Telefon. „Es wird einen Grund haben, wieso du gekommen bist.“ Diana kehrte um.
An diesem Abend, sagt Hanna Winter, als sie am Küchentisch Tee tranken und Sara mit ihren Jungs Fernsehen schaute, sei ihr das Ausmass von Dianas Verzweiflung zum ersten Mal klar geworden. Das schwarze Loch, das sie einsog. „Jede neue Rechnung war eine Katastrophe.“ Diana erzählte ihr von Selbstmordgedanken. „Was hält dich denn hier?“ fragte Winter. „Die Kinder“, meinte Diana.
Diana und Sara schliefen bei Winters. Um fünf Uhr morgens fuhren sie los, um Leon pünktlich um acht bei Dianas Mutter abzuholen, denn Diana wollte eine zuverlässige Mutter sein. Um 11 Uhr rief Dimi sie an. Sie erzählte ihm von Selbstmordgedanken. Dimi beschwor Diana, sich wieder in die Klinik einweisen zu lassen.
Zum Mittagessen kehrte Diana mit den Kindern zu ihren Eltern zurück. Sie kratzte sich ständig, sagten diese später der Polizei, sie war abwesend. Ihr Vater packte sie ins Auto, auch er wollte sie wieder in die Klinik bringen. Aber Diana überzeugte ihn zur Umkehr. Wenn sie sich nochmals einweise, meinte sie, würde man ihr die Kinder wegnehmen. Zu diesem Zeitpunkt, hält das Gerichtsurteil fest, hatte Diana sich entschieden.
Abends rief sie die Klassenlehrerin von Sara an und sagte ihr, dass ihre Tochter morgen nicht zum Unterricht erscheinen werde. Sie gab Sara eine Schlafpille mit dem Versprechen, zurück ins geliebte Balterswil zu fahren. Die zweite Pille löste sie in Leons Milch auf.
Mit den schlafenden Kindern auf der Rückbank fuhr Diana mit ihrem roten Fiat Punto zu einer Unterführung der A8 zwischen Ulm und Stuttgart. Sie stieg aus und stach auf die schlafende Sara ein. Sara erwachte und wehrte sich mit den Händen, deshalb waren die letzten der 26 Stiche nur Kratzer. Aber ihre Mutter hatte sie bereits zehn Zentimeter tief in Hals und Brust gestochen.
Diana ging ums Auto und stach auf den Kleinen ein, aber viel schwächer als bei Sara, vermutlich weil sie schon ausgepowert war. Die Wunden in Brust und Hals wurden bloss zwei Zentimeter tief. Als sich Leon nicht mehr bewegte, schnitt sich Diana die Pulsadern auf, jedoch quer statt längs, was sie nur leicht verletzte. Sie setzte sich das Messer an die Brust und stach zu, aber „ohne nennenswerte Kraft“, wie im Gerichtsurteil steht.
Diana erklomm die Böschung zur Autobahn und rannte mehrmals über die Strasse in der Hoffnung, überfahren zu werden. Doch die Autos wichen aus. Ein Autofahrer bremste und forderte Diana auf, ihm das Messer zu geben, das sie noch immer in der Hand hielt. Diana gehorchte und bat den Autofahrer, die Polizei zu rufen, weil sie ihre Kinder getötet habe. Die Polizisten fanden Sara halb sitzend, halb liegend zwischen Rück- und Vordersitz und Leon mit aufgerissenen Augen, gestikulierend.
Familienzimmer
Ende Juli 2015, neun Monate nach ihrer Tat, wird Diana zu neun Jahren wegen Totschlags verurteilt. Sie wird die Haft in einer geschlossenen Psychiatrie absitzen. Das Gutachten hält fest: Schwere Depression, aber keine Schizophrenie, deshalb nur bedingt schuldunfähig. Dimi, der den Prozess am Fernsehen mitverfolgt, nervt sich über das Schlussplädoyer von Dianas Anwalt, der meint, Diana habe ihr Kind zu Tode geliebt. „So was Dummes“, ärgert er sich. „Liebe wäre es gewesen, wenn sie Sara nur mit Pillen getötet hätte. Nicht 26 Mal mit dem Messer.“
Wie Dimi seine eigene Tat einschätzt, wechselt von Tag zu Tag. Manchmal redet er davon, dass er mit sich ins Reine kommen müsse, mal gibt er einem das Gefühl, ihm sei einfach etwas Doofes passiert. Seine Strafe habe er verdient, meint Dimi. „Drei oder fünf Jahre wäre zu wenig für das, was ich getan habe.“ Er hat einen Brief an Changs Familie geschrieben, sich für das Leid entschuldigt, das er ihnen angetan hat. Das Böse schlummere nicht in ihm, sagt Dimi. „Ich bin im Grunde ein guter Mensch. Es waren die Drogen, die mich so weit brachten.“ Er macht jetzt eine Entzugstherapie.
Und wartet, bis die Zeit um ist. Sie vergeht so verflucht langsam da drin. Man vergisst da drin, wie alt man sei, sagt Dimi. Er ist 36. „Aber ich fühle mich noch immer wie 33, weil man keine neuen Erfahrungen macht. Ich werde mich wie 33 fühlen, wenn ich mit 40 hier rauskomme.“
Einmal nimmt Dimi einen Ordner mit den Familienfotos in den Besucherraum mit. Bilder einer glücklichen Kindheit, bunte Plastikbecher und angebissene Kuchenstücke, lachende, zur Kamera fliegende Blicke. Gruppenfotos, zuerst um Dimi, seinen Bruder Pavlos und ihre Eltern, die sich dann um Dimis eigene Familie erweitern, Diana, Sara, Leon – das Rad des Lebens.
Es dreht weiter, einfach anders als geplant. Dimi zeigt ein Foto von Leon, aufgenommen in der Klinik, in die jener nach Dianas Tat eingeliefert wurde. Leon, hübscher blonder Knabe, er lacht und spielt mit irgendwas, trägt aber ein Pflaster auf der Brust. Eine Narbe wird bleiben. Das Lid des rechten Auges ist gesenkt, weil eine Sehne durchtrennt ist. „Heute sieht man es nur noch, wenn er müde wird“, sagt Dimi.
Jeden Monat fahren Dimis Eltern mit Leon zum Vater. Im Januar haben sie das Sorgerecht erhalten; sie sind zum zweiten Mal Eltern geworden. Als Dimi verhaftet wurde, war Leon kein Jahr alt. Nun ist er vier und geht in den Kindergarten. Dimi weiss nicht genau, was Leon in ihm sieht, in dem Typen, den er einmal mit den neuen Eltern immer wieder besucht. Er komme angerannt und umarme ihn, weil er spüre, dass der Mann was bedeutet, meint Dimi. „Aber er checkt es nicht ganz, zumindest am Anfang. Erst nach fünf Minuten, da löst er sich.
Dimi sieht Leon im Gefängnis aufwachsen. Er beobachtet, wie sich Leon von Besuch zu Besuch entwickelt, anders als die Grosseltern, die ihn jeden Tag um sich haben. Anfangs brabbelte er, das nächste Mal gab er schon Sätze von sich. Zu Weihnachten hat ihm Dimi ein Dreirad geschenkt, das er in der Gefängnisschreinerei fertigte.
Im September konnte Dimi erstmals das Familienzimmer buchen; eine kleine Wohnung mit Schlaf- und Wohnzimmer, damit Insassen Vater spielen können. Fünf Stunden waren sie drin, spielten Familie, die Wärter brachten Sandwiches und Getränke. Dimi und Leon bauten eine Deckenburg, die Eltern ruhten sich im Schlafzimmer aus. Bei einem Besuch im Sommer meinte Leon, als im Besucherraum die Glocke erklang, „Komm doch einfach mit.“ Dimi sagte, er müsse hier arbeiten.
Der Engel
Leon fragte anfangs oft nach Sara. Sie sei in den Himmel gegangen, erklärten sie ihm, sie sei jetzt ein Engel. Nach Mama hingegen, sagt Dimis Mutter, habe Leon noch nie gefragt. Das sei normal, habe der Kinderpsychologe gesagt. „Depressive Mütter leben wie hinter Glas, das Kind nimmt sie kaum wahr.“ In den Sommerferien auf Griechenland fragte Leon, ob sie seine Mutter sei. Nein, ich bin die Grossmutter, sagte sie. Leon fragte, wo denn die Mutter sei. Im Krankenhaus, sagte seine Grossmutter, wie mit dem Psychologen abgemacht.
Mama ist im Krankenhaus, Papa bei der Arbeit, und Sara ist ein Engel.
Alle hoffen, dass Leon gar nicht viel mitgekriegt hat. Doch als er kürzlich einen roten Fiat in der Nachbarschaft sah, einen wie Diana ihn fuhr, sei Leon ganz angespannt gewesen, erzählt Dimis Mutter. Als er kürzlich seinen Grossvater haute, weil er was nicht kriegte, was er wollte, meinte der: „Willst du, dass ich in den Krankenwagen komme?“ - „Nein“, erwiderte Leon, „nicht wie damals, als ich ins Krankenauto musste.“ Der Kleine findet langsam die Erinnerung. „Leon wird wachsen, er wird Fragen stellen“, sagt Dimis Mutter. „Jetzt findet er das noch lustig, Schuhe ausziehen bei der Sicherheitsschleuse. Aber irgendwann kann man ihm nicht mehr sagen, dass Papa hier arbeitet.“
Seine Eltern seien ängstlich gewesen, erzählt Dimi, weil sie sehr jung waren, als er auf die Welt kam. Dimi wollte als Papa immer sein wie die Eltern seines besten Freunds Markus. Als sie kifften, erzählt Dimi, konnte Markus mit seinen Eltern darüber reden. Dimis Eltern hätten es einfach verboten – hätten sie davon gewusst. „Ich hasste es als Kind, wenn die Eltern sagten: So ist das einfach, das verstehst du nicht”, sagt Dimi. “Wieso sollte ich das nicht verstehen?“ Seinen Sohn will er wie einen Erwachsenen behandeln.
Wenn Leon mit sechs in die Schule geht, will ihm Dimi erklären, dass er einen Unfall gemacht hat und dass jemand dabei gestorben ist. Wenn Leon Teenager ist, will er ihm die Wahrheit sagen. Irgendwann in den Ferien vielleicht, am Meer.
Wenn Dimi wie erhofft im Jahr 2021 nach zwei Dritteln der Strafe freikommen wird, will er mit Leon in einem VW-Bus durch Europa reisen, möglichst viel von der verlorenen Zeit wettmachen. Leon wird dann neun Jahre alt sein.
Dimi hat alle Unterlagen von den Prozessen seiner Eltern gesammelt, in Ordnern abgelegt. „Leon wird wissen wollen, wie unser Leben früher ausgesehen hat“, meint er. Wenn Leon seine Mutter später einmal sehen wolle, sei das seine Entscheidung. Er werde ihn sogar hinfahren.
Diana, heisst es im Gerichtsurteil, habe ihren Lebenswillen wieder gefunden. In erster Linie, um sich dereinst ihrem Sohn erklären zu können. In den Briefen an ihre Eltern fragt sie, wie es ihrem kleinen Engel gehe.
Sara ist der Engel im Himmel. Leon ist der Engel auf Erden.
Dimi sagt, seine Eltern liessen ihm zu viel durchgehen. Das Wochenende bleibt Leon manchmal bei Dianas Eltern; er kriegt viele Geschenke von ihnen.„Das bieg ich wieder gerade“, sagt Dimi, der seinen Eltern einbläut, strenger mit dem Kleinen zu sein.„Das arme Kind“, meint Hanna Winter, die ehemalige Nachbarin in Balterswil, „alle verwöhnen es, alle wollen an ihm wieder etwas geradebiegen.”
Einmal, genau einmal, will auch Dimi Diana nochmals sehen. Er will mit ihr reden, über das, was er getan hat, was sie getan hat. Doch zur Familie, sagt Dimi, gehöre Diana nicht mehr. Er will sich scheiden lassen. „Das Trennungsjahr hatten wir ja schon“, meint Dimi, „hinter Gittern.“ Die Papiere liegen bei seinem deutschem Anwalt. Noch diesen Frühling soll die Scheidung vollzogen werden.